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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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dann sehen, ob er sich umdreht.« Ich ließ die Schaukel quietschen, während ich mich langsam abstieß.
    Meine Mutter hatte mir mal erzählt, dass sie ihn ausgesucht habe, weil er ihr so ähnlich sah – damit es so war, als zeuge sie ihr Kind allein.
    Doch in dem roten tibetischen Notizheft mit dem orangefarbenen Einband und der Aufschrift »Venice Beach, 1972« stand eine ganz andere Geschichte:
    12. Juli. Heute Nachmittag K. im Buchladen Small World getroffen. Sah ihn, ehe er mich sah. Ein prickelndes Gefühl, ihn zu sehen, seine leicht gekrümmten breiten Schultern, die Farbspritzer auf seinen Haaren. Dieses durchgescheuerte Hemd, so uralt – eher eine vage Idee als ein Hemd. Wollte, dass er mich genauso entdeckte wie ich ihn, deshalb drehte ich mich um und blätterte in einem Büchlein des Illuminati-Verlages. Wusste genau, wie ich im Gegenlicht aussah, mein Haar in Flammen, mein Kleid nur ein Hauch. Wollte auch sein Herz stillstehen lassen.
    Ich schaute Ray an, der in den Regen hinausstarrte – und wusste plötzlich genau, wie sie sich gefühlt hatte. Es gefiel mir, wie er rauchte; ich liebte seinen Geruch, seine traurigen haselnussbraunen Augen. Ich konnte ihn nicht zum Vater haben, doch wenigstens konnten wir uns so wie jetzt auf der Veranda unterhalten. Er zündete seine Pfeife wieder an, zog daran und hustete.
    »Du wärst vielleicht enttäuscht von ihm«, sagte er. »Vielleicht ist er ein Scheißkerl. Die meisten Männer sind Scheißkerle.«
    Ich schaukelte hin und her; ich wusste, dass das nicht stimmte. »Du nicht.«
    »Frag meine Exfrau!«
    »Was macht ihr denn da draußen?« Starr öffnete die Verandatür und knallte sie hinter sich zu. Sie trug einen selbstgestrickten Pullover, fusselig und gelb wie ein Küken. »Darf man mitfeiern?«
    »Eines Tages spreng ich den Scheißfernseher in die Luft«, sagte Ray gelassen.
    Sie zupfte an den braunen Quasten der Grünlilien, die über ihrem Kopf hingen, riss die vertrockneten Blätter ab und warf sie über das Verandageländer; ihre Brüste quollen aus dem tiefen V-Ausschnitt. »Schau dich doch an! Du rauchst vor den Kindern. Du hattest immer schon einen schlechten Einfluss!« Doch sie lächelte, während sie das sagte, schelmisch und flirtend. »Tu mir einen Gefallen, Ray-Baby. Ich hab keine Kippen mehr, könntest du zum Geschäft fahren und mir ’ne Stange holen?« Sie strahlte ihn mit ihrem flachen, breiten Lächeln an.
    »Ich brauch sowieso noch Bier«, sagte er. »Kommst du mit, Astrid?«
    Schlagartig, als habe ihr Lächeln den Punkt äußerster Ausdehnung erreicht, sprang es zurück in die Mitte, dann dehnte es sich von neuem. »Du kannst doch allein gehen, oder? Du bist doch schon ein großer Junge! Astrid muss mir hier mal grade was helfen.« Zupf, zupf, riss sie die frischen Triebe zusammen mit den vertrockneten Blättern ab.
    Ray nahm seine Jacke, hielt sie sich gegen den Regen über den Kopf und duckte sich unter dem Wasserfall hindurch, der vom Wellblechdach herunterschoss.
    »Du und ich, wir müssen mal ein Wörtchen miteinander reden, Missy«, sagte Starr zu mir, nachdem Ray die Autotür des Pick-up hinter sich zugezogen und den Motor angelassen hatte.
    Widerstrebend folgte ich ihr ins Haus, in ihr Schlafzimmer. Starr redete nie mit den Kindern. Ihr Zimmer war dunkel und roch nach ungewaschenen Erwachsenen, stickig und lehmig, nach Mann und Frau. Das Bett war nicht gemacht. Ein Kinderzimmer roch nie so, egal wie viele dort schliefen. Am liebsten hätte ich ein Fenster aufgerissen.
    Sie setzte sich auf das ungemachte Bett und griff nach der Schachtel Benson & Hedges, sah, dass sie leer war, und warf sie weg. »Dir gefällt’s gut hier, was?«, sagte sie, während sie in die Schublade des Nachtschränkchens schaute und darin herumwühlte. »Richtest dich hier häuslich ein? Machst es dir gemütlich?«
    Mein Blick glitt über das Blumenmuster auf ihrer Bettwäsche, es war Mohn. Ich zog mit den Fingern den Blätterkranz nach, dann die Staubgefäße in der Mitte. Mohn, die Blumen, die den Verfall meiner Mutter verkörperten.
    »Ein bisschen zu gemütlich, würd ich sagen.« Sie schloss die Schublade, der kleine Griff klapperte. Dann zog sie die Überdecke hoch, sodass ich das Blumenmuster nicht mehr nachzeichnen konnte. »Ich bin vielleicht kein Genie, doch für dumm verkaufen lass ich mich auch nicht. Glaub mir: in der Hinsicht kann mir keiner mehr was vormachen!«
    »In welcher Hinsicht?« Ich konnte nicht anders, aber ich war neugierig, was

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