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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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verdoppelt, und nun fand ich mich schiffbrüchig an einem verlassenen, mit Glasscherben bedeckten Ufer wieder. Wegen der allzu gut funktionierenden Klimaanlage in meinem kleinen Zimmer fing ich mir eine Erkältung ein. Alles, woran ich denken konnte, war, wie einsam ich mich fühlte. Meine Einsamkeit schmeckte wie Penny-Münzen. Ich dachte ans Sterben. Ein Junge im Krankenhaus hatte mir erzählt, der beste Weg sei, sich eine Luftblase in die Ader zu spritzen. Er hatte Knochenkrebs und hatte eine Spritze gestohlen, die er in einem Comic-Heft versteckt hielt. Falls es eines Tages zu schlimm würde, meinte er, würde er sich ein bisschen Luft einspritzen, und es wäre in ein paar Sekunden vorüber. Wären die Briefe meiner Mutter nicht gewesen, hätte ich mir auch etwas überlegt. Ich las sie wieder und wieder, bis sie an den Knickstellen ganz weich wurden und auseinander gingen.
    Wenn ich nicht schlafen konnte, ging ich auf den Hof hinaus, wo die Grillen Duette sangen und der Asphalt sich unter meinen bloßen Füßen warm anfühlte wie ein Tier. Die weißen Kiesbeete leuchteten im Mondlicht; ihr steriler Charme wurde nur durch einige weiße Plastik-Dahlien unterbrochen, die in regelmäßigem Abstand in den Kies gesetzt worden waren. Einmal schickte ich meiner Mutter eine Zeichnung des Hauses in seinem schwarzen Asphaltmeer, umrahmt von den weißen Kiesbeeten, und sie sandte mir ein Gedicht über das Kind Achilles, dessen Mutter ihn in den schwarzen Styx getaucht hatte, um ihn unsterblich zu machen. Das trug jedoch auch nicht dazu bei, dass ich mich besser fühlte.
    Ich saß auf dem Gartentisch aus Redwood und lauschte der Musik, die durch die Fensterläden des Nachbarhauses drang. Sie waren immer geschlossen, doch ein Saxophon fand seinen Weg durch die Holzlamellen; Jazz, so intim wie eine Berührung. Ich ließ meine Fingerspitzen über die dunkle Eisenklinge des Messers gleiten, das meiner Mutter gehört hatte, und stellte mir vor, wie ich mir die Pulsadern aufschnitt. Es hieß, dass man es noch nicht mal spürte, wenn man es in der Badewanne tat. Wenn meine Mutter nicht gewesen wäre – ich hätte nicht lange gezögert. Allerdings befand sich die Waage in einem bedenklichen Ungleichgewicht: Alles drückte eine Seite herunter, auf der anderen Waagschale lagen nur die Briefe meiner Mutter, so leicht wie ein Gutenachtgruß, eine Hand, die flüchtig mein Haar berührte.
    Ich spielte das Messerspiel, legte meine Hand gespreizt auf die Rutschbahn und stieß mit der Messerspitze zwischen die Finger. Johnny, Johnny, Johnny, Hoppla. Johnny, Johnny, Johnny, Hoppla. Johnny, Johnny, Johnny, Johnny. Von mir aus konnte mich die Klinge ruhig treffen.
    Liebe Astrid,
ich weiß, was du gerade durchmachst. Daran ist nichts zu ändern. Sorge nur dafür, dass nichts verloren geht. Mach dir Notizen. Erinnere dich an alles, an jede Beleidigung, jede Träne. Tätowiere es auf die Innenseite deines Geistes. Im Leben ist es wichtig, die richtigen Gifte zu kennen. Ich habe dir schon mal gesagt: Man wird nicht einfach zum Künstler – es sei denn, man muss.
    Mutter.
    Ohne das Percodan ging mir allmählich auf, weshalb Mütter ihre Kinder aussetzten, sie in Supermärkten und auf Spielplätzen zurückließen. So schlimm hatte ich mir dieses Geplärre, die endlosen winzigen Forderungen, das ständige Beaufsichtigen nicht vorgestellt. Ich erzählte Marvel, dass ich Aufsätze und Referate vorbereiten müsse, und versteckte mich nach der Schule zwischen den Regalen der Bücherei, wo ich mich durch die Bücherlisten arbeitete, die meine Mutter mir in ihren Briefen schickte. Ich teilte mir die Tische mit zeitunglesenden alten Männern und katholischen Schulmädchen, die Teenager-Magazine hinter ihren Geschichtsbüchern versteckt hielten.
    Ich las alles – Colette, Françoise Sagan, Anaïs Nins »Ein Spion im Haus der Liebe«, »Ein Porträt des Künstlers als junger Mann«. Ich las »Silbermond und Kupfermünze«, einen Roman, in dem es um Gauguins Leben ging, und die Kurzgeschichten von Tschechow, die Michael mir empfohlen hatte. Miller hatten sie nicht, aber Kerouac gab es. Ich las »Lolita«, doch der Mann im Buch war kein bisschen wie Ray. Ich schlenderte zwischen den Regalen entlang und ließ meine Finger über die Buchrücken gleiten; sie kamen mir vor wie kultivierte oder besserwisserische Gäste, die auf einer wunderbaren Party miteinander flüsterten.
    Eines Tages sprang mir aus einem Regal mit Abenteuerbüchern ein Titel entgegen. Ich

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