Weisser Oleander
sie sie vorsichtig mit einem Q-Tip ab. Sie legte vier Schichten Wimperntusche auf, bis ich durch ein Gewirr von Spinnenbeinen blickte. Ich würde sehr schön aussehen, das fühlte ich. Marvel verkleinerte meine dicken Lippen, gab ihnen innerhalb ihrer echten Ränder neue Konturen und füllte diese dann mit »Piquant Peach«.
»Gott, sie könnte jetzt als Miss America gehen«, sagte Debby.
Linda sagte: »Ohne Scheiß. Guck mal in den Spiegel.«
»Erst die Haare«, meinte Debby. »Wartet mal, ich hole meinen Lockenstab.«
»Wir brauchen’s ja nicht zu übertreiben«, sagte Marvel. Plötzlich war ihr wieder eingefallen, wer ich tatsächlich war: keineswegs Miss America, sondern nur das Mädchen, das ihr regelmäßig die Haare wusch und legte.
Doch Debby kehrte ihre Einwände mit dem Schlagwort »Gesamteffekt« beiseite. Es roch nach Hitze und verbranntem Haar, das sich zwischen den Borsten des Lockenstabes verfangen hatte, während Debby sich Strähne für Strähne vorarbeitete.
Dann war ich fertig. Ich musste die Augen schließen, und sie führten mich an beiden Armen in Marvels Schlafzimmer. Mir kribbelte vor Aufregung die Haut. Wer würde ich sein? »Und hier – unsere Kandidatin aus Kalifornien – Astrid!«
Sie zogen mich vor den Spiegel.
Mein Haar kräuselte sich ungestüm und stand ungefähr zehn Zentimeter vom Kopf ab. Über Stirn und Nase liefen mir weiße Streifen wie hinduistische Kastenzeichen. Unterhalb meiner Wangenknochen zeigten sich braune Flecken, die zum Rand hin weiß wurden und mein sonst totenbeiges Gesicht in eine Vorlage für Malen nach Zahlen verwandelten. Auf meinen Wangen prangte das Rouge wie ein Hautausschlag; meine Lippen waren auf den winzigen Bogen einer Geisha verkleinert. Meine Augenbrauen funkelten wie dunkle Schwingen und beschirmten die glitzernden Streifen des Lidschattens, violett, blau und pink, wie ein Kinder-Regenbogen. Ich weinte nie, doch nun traten mir ungewollt Tränen in die Augen und drohten einen Erdrutsch auszulösen, sollten sie über den Rand ihres Beckens treten.
»Sie sieht genauso aus wie diese Brigitte – wie heißt sie noch? Das Fotomodell.« Linda hatte mich an den Schultern gefasst und schaute, ihr Gesicht dicht neben meinem, in den Spiegel. Ich versuchte zu lächeln; sie hatten sich solche Mühe mit mir gegeben.
Debbys braune Augen wurden ganz weich vor Stolz. »Wir sollten ihr Foto an Mary Kay schicken. Vielleicht geben sie uns einen Preis.«
Beim Gedanken an eine Prämie durchwühlte Marvel hastig ihren Wandschrank, fand die Polaroid-Kamera und stellte mich vor dem Spiegel in Positur. Es war das einzige Foto, das sie je von mir machte. Im Hintergrund konnte man das ungemachte Bett und das Durcheinander auf ihrer Kommode erkennen. Sie beglückwünschten sich gegenseitig, gingen zurück zu Soda und Knabberzeug und ließen mich vor dem Spiegel stehen, eine hergerichtete Barbiepuppe, die im Sandkasten vergessen worden war. Ich verkniff mir die Tränen und zwang mich dazu, in den Spiegel zu schauen.
Was mich von dort anblickte, war eine dreißigjährige Kellnerin aus einem Schnellrestaurant. »Kann ich Ihnen noch was bringen, Schätzchen?« Dieses Bild brannte sich in meine Seele ein, ätzte die Deneuve und die Dietrich weg wie Säure. Die Frau im Spiegel würde keine drei verschiedenen Liebhaber koordinieren müssen. Sie würde nicht auf mexikanischen Hoteldächern tanzen oder First Class über den Nordpol nach London fliegen. Sie hatte Krampfadern, lebte in einem Einzimmerapartment mit Katzendreck und schaute sich Filme mit Lana Turner an. Sie trank zu Hause, während die Tomatenpflanzen auf ihren Fensterbänken verwelkten. Sie würde sieben Tage in der Woche auf Magie hereinfallen. Lieb mich, sagte dieses Gesicht. Ich bin so einsam, so verzweifelt. Ich gebe dir alles, was du willst.
Das Schuljahr endete im Juni unter einer dichten Dunsthaube vom Meer, so schwer wie nasse Handtücher. Die bleistiftgrauen Tage wurden nur von den blauen Blumen in Olivias Garten durchbrochen. Ich passte auf die Kinder auf, machte Besorgungen, las noch einmal »Ein Spion im Haus der Liebe«. Ich sehnte mich danach, Olivia wiederzutreffen, doch Marvel deckte mich mit Arbeit ein. Wenn ich nur mal kurz nach draußen ging, gab sie mir direkt vier neue Sachen zu tun. Manchmal sah ich Olivia, wenn sie Kräuter in ihrem Garten pflückte, und unsere Blicke begegneten sich, doch sie ließ sich nicht anmerken, dass sie mich kannte. Sie wäre eine gute Geheimagentin geworden,
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