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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Nase hatte ich noch den Duft des Parfums und ihrer Haut. Mir brauste der Kopf von allem, was ich in dem Haus gesehen und gehört hatte, das dem unseren so ähnelte und trotzdem so ganz anders war. Und während ich durch unsere Nachbarschaft ging, wurde mir klar, dass jedes Haus eine vollkommen andere Wirklichkeit enthalten konnte. In einem einzigen Häuserblock konnte es fünfzig verschiedene Welten geben. Niemand weiß je wirklich, was direkt nebenan vor sich geht.

12

    Ich lag auf meinem Bett und fragte mich, wie ich wohl als erwachsene Frau sein würde. Ich hatte vorher nie viel darüber nachgedacht, wie meine Zukunft aussehen könnte. Ich war zu beschäftigt damit gewesen, Fischsaft aufzusaugen und mich gegen die tödlichen Strahlen der Wüstensonne in den Sand einzugraben. Doch jetzt war ich gefesselt von dieser zukünftigen Astrid, die Olivia in mir gesehen hatte. Ich sah mich als eine Art Catherine Deneuve, blass und stoisch, wie sie in »Belle de Jour« gewesen war. Oder vielleicht auch als eine Dietrich wie in »Shanghai Express«, ganz Glimmer und Rauch. Würde ich faszinierend sein, der Star meines magischen Theaters? Was würde ich mit einem Bündel Hundert-Dollar-Noten anfangen?
    Ich stellte mir vor, wie ich dieses Geld in den Händen hielt. Doch dann war ich mit meiner Fantasie am Ende. Bisher hatten sich meine Gedanken ausschließlich auf das Überleben gerichtet. Luxus war jenseits meiner Vorstellungskraft gewesen und Schönheit erst recht. Ich heftete den Blick auf die gestreiften Gardinen, bis die Streifen sich in eine Art Relief verwandelten. Ray hatte Schönheit in mir gesehen. Mit Olivias Hilfe könnte ich sie mir zu Eigen machen, sie formen und benutzen. Ich könnte mit Schönheit arbeiten, wie ein Künstler mit Farbe oder Sprache arbeitete.
    Ich werde mir drei Liebhaber zulegen, beschloss ich. Einen distinguierten älteren Herrn mit silbrigem Haar und grauen Anzügen, der mich auf seine Reisen als Begleiterin mitnähme, auf lange Flüge in der First Class nach Europa, und auf steife Cocktailempfänge, die man anlässlich des Besuches auswärtiger Würdenträger veranstaltet. Ich nannte ihn den schwedischen Botschafter. Ja, Mutter, gern würde ich mich für den Vater hinlegen.
    Dann war da Xavier, mein mexikanischer Liebhaber; Mutters wiedererweckter Eduardo, aber zärtlicher und leidenschaftlicher, weniger albern und verwöhnt. Xavier schmückte das Bett mit Kamelien, schwor, er würde mich heiraten, doch er sei bereits bei seiner Geburt einem Mädchen mit Hasenscharte versprochen worden. Das störte mich nicht; ich wollte sowieso nicht bei seinen tyrannischen Eltern in Mexiko City wohnen und seine zehn katholischen Kinder austragen. Ich hatte ein Hotelzimmer ganz für mich allein und ein Dienstmädchen, das mir zum Frühstück mexikanischen Kakao ans Bett brachte.
    Der dritte Mann war Ray. Ich traf ihn heimlich in Großstadthotels; er saß mit seinem traurigen Gesicht in der Hotelbar, und ich käme herein, gekleidet in ein weißes Leinenkostüm und Schuhe mit schwarzer Spitze, das Haar zu einem Chignon gesteckt, ein Seidentuch an meine Handtasche gebunden. »Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest«, sagte ich mit tiefer, leicht ironischer Stimme so wie die Dietrich. »Aber ich bin trotzdem gekommen.«
    Ich hörte Marvel nach mir rufen, doch sie war in einer anderen Welt, zu weit weg. Sie meinte nicht mich. Sie meinte irgendein anderes Mädchen, irgendein hoffnungslos langweiliges Ding, prädestiniert für die Armee oder die Kosmetikschule. Ich dagegen lag eng umschlungen mit Ray in einem Hotelzimmer unter deckenhohen Fenstern, neben uns auf der Kommode stand eine Vase mit voll erblühten roten Rosen.
    »Astrid!«
    Ihre Stimme klang wie ein Schlagbohrer, durchdringend und unnachgiebig. Wenn ich die Wahl hätte, wäre ich lieber die Sklavin eines Mannes als einer Frau. Ich quälte mich vom Bett hoch und stolperte ins Wohnzimmer, wo Marvel und ihre Freundinnen auf der geblümten Couch saßen, die Köpfe eng zusammengesteckt. Sie tranken gefärbtes Sodawasser, das in seinen Farben stark an Außerirdische erinnerte, und bedienten sich aus der Knabbermischung, die ich nach einem Rezept auf der Corn-flakes-Schachtel gebacken hatte.
    »Da ist sie ja.« Debby hob ihr Pferdegesicht unter der krausen Dauerwelle. Ihr mehrschichtig aufgetragener Lidschatten sah aus wie Formationen im Sedimentgestein. »Frag sie doch!«
    »Ich sag’s dir doch, das Auto!«, sagte Marvel. »Du kommst nach Hause und

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