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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Streng genommen ist das ein Ausreißversuch.«
    Ich trat von einem Bein aufs andere, mein pulsierender Kopfschmerz begleitete jeden Herzschlag. Wenn ich konzentriert einatmete, konnte ich englische Blumen riechen. Aus dem Haus schallte die aufgeregte Stimme des Fußballreporters, und einen Moment lang wanderte der Blick des Polizisten in Richtung der Fernsehgeräusche. Dann fiel ihm wohl wieder ein, weswegen er eigentlich gekommen war, und er wandte sich wieder mir zu.
    »Hat diese Frau dir Alkohol gegeben?«
    »Nein. Marvel und Ed hatten gestern Abend eine große Weihnachtsfeier. Der Eierflip hat’s in sich gehabt.« Mein funkelnder Saphir, Officer Moody. Sehen Sie, wie er glitzert? Ich kann kein Wässerchen trüben. »Lassen die Sie etwa an Weihnachten arbeiten?«
    »Ich mach dreifache Überstunden«, sagte er. »Irgendwie muss das Geld für die Alimente ja reinkommen. Also, was hast du nebenan gemacht?«
    »Platten gehört, mich unterhalten.«
    »Und du hast dort übernachtet?«
    »Nun ja, hier war’s viel zu laut, um zu schlafen.«
    Er zupfte an seinem fleischigen Ohrläppchen herum. »Gehst du oft nach nebenan?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Sie ist nett, aber sie hat auch viel zu tun. Sie ist oft verreist.«
    »Hat sie dich je ihren Freunden vorgestellt?«
    Ich schüttelte den Kopf und ließ dabei den Mund offen stehen, ein bisschen beschränkt, so als hätte ich keine Ahnung, worauf er anspielte. Sie meinen, ob sie mich je einem ihrer Freier vorgestellt hat? Hat sie mich je dem BMW -Mann auf einer Kuchenplatte angeboten, wie in »Pretty Baby«? Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht gelacht.
    »Hat sie je mit dir darüber gesprochen, womit sie ihr Geld verdient?« Er sprach sehr ruhig und strich sich dabei über den buschigen Schnurrbart.
    »Sie arbeitet für einen Party-Service, glaub ich.« Ich weiß auch nicht, woher diese Eingebung kam.
    »Was für ein Blödsinn! Das ist doch alles erstunken und erlogen!«, schrie Marvel mit empört zusammengekniffenen Augen. Sie hatte sich ein Stückchen weiter weg mit dem anderen Polizisten unterhalten.
    Ich drehte mich mit dem Rücken zum türkisen Haus, damit Marvel mir nicht die Worte von den Lippen ablesen konnte. »Marvel hasst sie, weil sie gut aussieht und keine Kinder hat, um die sie sich kümmern muss. Sie beschimpft sie andauernd mit irgendwelchen Ausdrücken – Nigger, Hure . Es ist ziemlich peinlich, aber was soll ich machen, ich bin nur ein Pflegekind. Sie macht das mit allen Nachbarn so, jeder wird es Ihnen bestätigen . Bohnenfresser hier , Judensau da, die ganze Nachbarschaft hasst sie deshalb schon.« Wahrscheinlich sagte er auch Nigger und Bohnenfresser , dieser Officer Moody, der sich an den roten Ohrläppchen zupfte, aber sicher nicht da, wo es irgendjemand zu Protokoll nehmen konnte.
    Sie schickten mich wieder ins Haus, doch durch das Küchenfenster beobachtete ich, wie die Schutzstaffel durch Olivias Garten ging und an ihre Tür klopfte. Fünf Minuten später waren sie wieder zurück. Ich hörte Marvel kreischen: »Wollen Sie sie nicht festnehmen?«
    Der Streifenwagen setzte sich langsam in Bewegung und rollte vom Bordstein herunter – ohne Olivia Johnstone.
    Den Rest der Weihnachtsferien verlief wieder alles wie gewohnt, außer dass Marvel mich im Auge behielt wie eine Ladendiebin. Kein kurzer Gang mehr zum Supermarkt oder in die Bibliothek, kein »Lauftraining« mehr. Doch sie schrie mich nicht mehr ganz so viel an, gab mir stattdessen wie früher Anweisungen und behandelte mich ansonsten wie eine Sklavin. Am Neujahrsabend ließ sie mich zum Babysitten allein zu Hause, rief allerdings viermal an, um sich zu vergewissern, ob ich auch noch da war. Ich hinterließ Nachrichten auf Olivias Anrufbeantworter, doch sie hob nie ab.

15

    Am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien wurde ich während der dritten Stunde zur Schuldirektion gerufen. Im Büro der stellvertretenden Direktorin wartete eine säuerliche, übergewichtige Sozialarbeiterin auf mich. Die stellvertretende Direktorin forderte mich auf, meinen Spind leer zu räumen und meine Schulbücher beim Pförtner abzugeben. Sie sah mir dabei nicht einmal ins Gesicht. Die neue Sozialarbeiterin sagte, sie habe meine Sachen bereits im Auto.
    Ich drehte die Kombination an meinem Zahlenschloss und holte die Schulbücher aus meinem Spind. Einerseits war ich ziemlich verblüfft, andererseits aber auch nicht. Es war typisch für Marvel, mich ohne jegliche Vorwarnung mitten aus dem Unterricht holen

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