Weisser Schrecken
Teil der Wohnung, wo dieser zum Gewürzbord griff und einen Plastikscheffel hervorzog, in dem sich Salz befand.
»Salz?«
»Allerdings.« Robert leckte sich unruhig über die Lippen. »Denk nur an den alten Aberglauben, dass man sich dreimal eine Prise Salz über die linke Schulter werfen muss, um Unglück abzuwehren. Selbst in der christlichen Mythologie spielt Salz eine wichtige Rolle. Lots Weib wird in eine Salzsäule verwandelt, als sie zum sündigen Sodom zurückblickt, und gemäß dem mosaischen Gesetz ist Salz Bestandteil aller Speiseopfer. Selbst Jesus bezeichnete seine Zuhörer in der Bergpredigt als das ›Salz der Erde‹. Die Abscheu des Bösen vor Salz soll so groß sein, dass auf einem Hexensabbat angeblich keine Speisen gereicht wurden, die Salz enthielten. Früher hat man sogar empfohlen, Neugeborene in Salzwasser zu baden, um finstere Kräfte davon abzuhalten, sich ihrer zu bemächtigen. Selbst Toten hat man einst ein Schüsselchen mit Salz auf den Körper gestellt, um böse Geister von ihnen fernzuhalten.«
»Teufel, du könntest rechthaben«, hub Andreas ernst an. »All das Salz. Wenn ich an damals zurückdenke … Das ist so, als hätten wir den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen.«
»Eben.« Robert langte zum Schrank hinauf, wo ein ganzer Karton mit Salzpackungen stand. »Zumindest eines wissen wir: Mit Salz kann man vorzüglich Eis und Schnee bekämpfen. Egal, ob das auch im übertragenen Sinn eine Bedeutung hat, wir werden es mitnehmen.« In diesem Moment klingelte sein Handy. Robert stellte den Karton auf einem Küchentisch ab und nahm das Gespräch an. »Ja, Andy ist schon hier … Nein, noch nicht … Aber du solltest wissen, dass auf Frauen wie sie Verlass ist. Ich rechne etwa in einer halben Stunde mit ihrem Eintreffen … Gut, bis gleich.« Andreas sah Robert gespannt an. »Niklas ist gleich hier«, meinte dieser. »Wir sollen die Hofeinfahrt nebenan aufmachen. Er … Na ja, er bringt etwas mit, das nicht jeder sehen soll.«
»Und was?«
»Scheiße, Andy. Stell dich nicht dümmer an als du bist.«
»Robert, das habt ihr nicht getan!?«
»Doch, haben wir!«, schrie Robert. »Was hätten wir denn sonst tun sollen?«
Andreas versetzte Robert einen groben Stoß, rannte den Flur hinunter und riss die Wohnungstür auf. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Die Sonne war längst hinter den Bergen verschwunden, und der Wind blies ihm Rieselschnee entgegen. In diesem Moment fuhr ein VW-Bus mit angeschalteten Scheinwerfern in die Gasse vor Roberts Haus ein und blendete ihn. Undeutlich konnte Andreas Niklas hinter der Frontscheibe erkennen. Der Bus rollte mit blubberndem Geräusch auf ihn zu und hielt dann an. Andreas lief zur Fahrerseite und bedeutete Niklas, die Scheibe runterzudrehen. Er war deutlich älter geworden, doch die Ähnlichkeit zu früher war unverkennbar. Niklas trug eine schwarze Mütze, die eng um seinen Kopf lag. Noch immer war er von schwerer Statur, und auf seinen fleischigen Wangen zeichneten sich ungepflegte Bartflusen ab. Am meisten irritierte, dass er heute keine Brille mehr trug, sondern auf Kontaktlinsen umgestiegen zu sein schien.
»Mann, Niklas, sag mir, dass ihr das nicht getan habt!?« Andreas Blick irrlichterte über die Seitenfenster des Bullis hinweg, die von innen mit schwarzen Vorhängen verhängt waren.
»Tolle Begrüßung«, schnaufte Niklas verärgert. »Nach all den Jahren hätte ich etwas mehr Enthusiasmus erwartet.«
»Enthusiasmus?« Andreas rannte auf die andere Seite, riss die Tür auf und kletterte auf den Beifahrersitz, um einen Blick auf den Innenraum zu erhaschen. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Hinten, auf den Sitzen, direkt vor einem sorgsam aufgehängten Nikolauskostüm, lag ein Mädchen. Sie war kaum älter als elf Jahre. Niklas hatte sie in eine wärmende Decke gehüllt, doch unter der Decke konnte er ein Kostüm ausmachen. Wie von einem Engel.
»Seid ihr wahnsinnig geworden?«, brüllte er los. »Wo habt ihr die Kleine her? Wer ist sie?«
»Leise!«, blaffte ihn Niklas an, und seine Stirn zierte nun eine Zornesfalte. »Wenn du weiter so schreist, dann haben wir gleich einen Haufen Leute am Hals. Und ich schätze, das wollen weder du noch wir.« Neben der Beifahrertür erschien Robert, der sich nervös zu allen Seiten hin umsah. Andreas kletterte nach hinten und überprüfte den Puls des Mädchens. Er schlug ruhig. Doch ihre Lippe war aufgeplatzt und mit geronnenem Blut besudelt. »Verdammt, was hast du mit ihr
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