Weisser Schrecken
dass uns der Zustand ihrer Tochter vor ein absolutes Rätsel stellt.«
»Das ist kein bloßes Rätsel«, ereiferte sich Elkes Vater. »Das ist ein Fingerzeig des Herrn! Nicht wahr, Hochwürden? Meine Familie ist von ihm gesegnet. Zugleich wird sie von ihm leidvoll geprüft!«
»Ich schlage vor«, antwortete Strobel ausweichend, »dass Sie und Ihre Frau uns zum Friedhof begleiten, um sich die Tote mit eigenen Augen anzusehen. Dann überlegen wir weiter.«
»Sie können das gern auch morgen tun«, wandte Doktor Bayer ein.
»Nein. Meine Frau und ich wollen sie jetzt sehen. Unbedingt!«
Hastig schlich Elke wieder nach oben, packte Miriam aufgeregt am Nachthemd und zog sie zurück in die Dunkelheit ihres Zimmers. Dort berichtete sie ihr, was sie unten gehört hatte. Miriam sah sie fassungslos an. »Du und ich, wir haben eine Schwester?«, keuchte sie. »Und Vater und Mutter haben uns niemals was davon erzählt? Das kann doch nicht sein?«
Elke ließ sich mit Miriam auf deren Bett nieder und nahm sie in den Arm. Sie fühlte, wie Miriam zitterte. Oder zitterte sie selbst? In Elke stieg die Wut auf. Dass Vater und Mutter ihnen das all die Jahre über verschwiegen hatten, würde sie ihnen niemals verzeihen.
»Und was machen wir jetzt?«, flüsterte Miriam.
Elke wurde plötzlich ganz ruhig. Sie musste wieder an das eigenartige Lichtspiel auf dem zugefrorenen See zurückdenken, ohne das sie ihre tote Schwester vielleicht nie gefunden hätte. Und auch an das unheimliche Vorkommnis unter dem Eis. Die Tote hatte die Augen aufgeschlagen und Worte formuliert … Dennoch, auch wenn sie sich Letzteres nur eingebildet hatte, was waren das eigentlich für Kinder gewesen? Erst auf dem Eis und dann später in dem Wäldchen, kurz bevor sie die Tote entdeckt hatte? Das alles war ebenso seltsam wie unheimlich. Der ganze Tag hatte irgendwie schon so merkwürdig begonnen.
»Glaubst du ans Schicksal?«, wollte sie von ihrer Zwillingsschwester wissen. Miriam sah sie aus großen Augen an. »Du denn?«
Elke zögerte. »Weiß nicht.«
»Du meinst …« Miriam schluckte. »Du meinst, es war vielleicht gar kein Zufall, dass ausgerechnet wir unsere Schwester gefunden haben?« Sie bekreuzigte sich. Elke erhob sich, kramte in ihrer Nachttischschublade und wies Miriam an, mit ihr ans Fenster zu treten, wo das schale Licht einer Straßenlaterne durch die Rollos fiel. Unter vor dem Haus waren die Stimmen der Erwachsenen zu hören, die jetzt in Richtung Kirche stapften. »Ich weiß, dass du mir nicht abnimmst, dass die Tote … dass Anna … dass sie die Augen aufgeschlagen hat. Aber schau dir bitte mal dies hier an. Das hier ist nämlich auch einer der merkwürdigen Zufälle von heute.« Sie glättete vorsichtig Andys halbverbranntes Liebesgeständnis und präsentierte es ihrer Schwester.
Miriam starrte die Zeilen an und schlang sich fröstelnd die Arme um den Oberkörper. »Elke, das ist nicht witzig.«
»Nein, das ist auch nicht witzig. Um uns herum geschieht irgendetwas Merkwürdiges. Außerdem habe ich fast das Gefühl, dass uns Vater und Mutter das mit Anna ganz bewusst verheimlicht haben.« Elke faltete die Überreste des Zettels vorsichtig wieder zusammen. »Egal, ob das hier nun Zufall ist oder nicht. Ab Morgen werden wir genau das tun, wozu uns die Worte auffordern: Wir werden die Wahrheit herausfinden!«
Kapitel 2
Imago animi vultus
(Das Gesicht ist ein Abbild der Seele)
Andreas dachte mit bitterer Miene an seine Jugend zurück, während er mit seinem Leihwagen am gelben Ortsschild Perchtals vorbeifuhr. Lag das alles wirklich schon 16 lange Jahre zurück? Endlich lichteten sich die verschneiten Tannen längs der Landstraße. Vor der prachtvollen, weißgrünen Bergkulisse der Berchtesgadener Alpen tauchten nun all die schiefen und krummen Häuser auf, die einmal Teil seiner Heimat gewesen waren. Heimat. Andreas schürzte verächtlich die Lippen. Wenn er voraus blickte, dann war ihm, als habe jemand eine große Käseglocke über Perchtal gestülpt, die das verdammte Dorf von der Außenwelt abschirmte. Ein einziges neues Haus am Berghang schräg über ihm war neu errichtet worden, der Rest wirkte so, als habe er den Ort gestern erst verlassen. Er entdeckte den schlanken Kirchturm und dann den großen Perchtensee am Fuße des Dorfes, wo Elke damals das tote Mädchen gefunden hatten. Auch dieses Jahr War der See zugefrören und spannte sich als verschneite Ebene bis zur gegenüberliegenden Seite des Tals. Sogar die Überreste des
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