Weisser Schrecken
hat mir erzählt, dass du jetzt Arzt bist?«
»Ja. Hab die letzten Jahre vornehmlich im Ausland verbracht.«
»Kann ich verstehen. Hätte vielleicht auch weggehen sollen.«
»Und was machst du jetzt?«, wollte Andreas wissen.
»Ich übersetze.« Robert zuckte mit den Schultern. »Nichts Dolles. Gebrauchsanweisungen und so. Das meiste aus China. Für den deutschen Markt.«
»Du kannst Chinesisch?«
»Nein, vom Englischen ins Deutsche. Und ich lese viel. Sehr viel. Das habe ich inzwischen mit Niklas gemein. Vor allem über, na ja, du weißt schon …« Die beiden schwiegen wieder. »Ich hab mir all die Jahre über etwas vorgemacht«, hub Andreas mit rauer Stimme an. »Ich hab einfach so getan, als wäre das nicht passiert. Hab versucht, ein normales Leben zu führen, so, als würde der heutige Tag nicht auf uns zukommen.«
»Du solltest wissen, was dann passiert.« Robert spähte hinüber zur Bar, doch er blieb standhaft. »Vorhin hat übrigens auch Miriam Bescheid gegeben. Alle sind jetzt auf dem Weg hierher. Nach all den Jahren ist das schon etwas Besonderes, findest du nicht?«
»Etwas Besonderes?« Andreas starrte ihn ausdruckslos an. »Ich hasse Nikolaus. Ich bin jedes Mal froh, wenn der sechste Dezember vorbei ist.«
»Ja, natürlich.« Robert bat Andreas nun nach drüben in sein altes Jugendzimmer mitzukommen. Überrascht stellte dieser fest, dass es nicht mehr schwarz gestrichen war. Stattdessen säumten hohe Regale die Wände, in denen sich unzählige alte Bücher, Folianten und mittelalterliche Handschriften stapelten. »Meine Güte!«, entfuhr es ihm. »Habt ihr … habt ihr inzwischen einen anderen Weg gefunden?«
»Nein.« Robert schüttelte unglücklich den Kopf. »Allerdings ist uns inzwischen manches klarer geworden. Niklas und ich sitzen ja schon länger an der Sache dran. Er ist übrigens Lehrer an unserer alten Schule in Berchtesgaden. Latein und Geschichte. Ich weiß nicht, ob er dir das erzählt hat? Ich hab es ja mit Latein selbst nie so gehabt. Aber das ging dir ja ähnlich.« Andreas schnaubte. »Ob du es glaubst oder nicht, aber ich musste da während des Studiums noch einmal durch. Als Arzt kommst du ohne nicht aus.« Er nahm ein altes Buch zur Hand, das auf einem Lesetisch lag. Er schätzte es auf das 18. Jahrhundert und sah anhand des Einbands, dass sich sein Inhalt um Kinderfolklore drehte.
»Genau das wollte ich dir zeigen«, meinte Robert tonlos. »Darin sind sogar Texte der Gebrüder Grimm. Erstauflage von 1822. Eine absolute Rarität.« Er klappte es an einer Stelle auf, die mit einem Papierstreifen markiert war, und enthüllte einen alten Stich, den Andreas entgeistert anstarrte. Die Abbildung zeigte ein Gebirgsdorf bei Nacht, über dem eine monströse Schneewolke mit sackartigen Ausstülpungen aufgestiegen war. Das Himmelsphänomen besaß vage menschliche Konturen, und das Wolkengebilde ähnelte auf unheimliche Weise einer bizarren Ansammlung von Fressmäulern und wulstigen Lippen, von denen Graupelschauer wie Geifer auf die Landschaft niederregneten. Über den Dächern aber, inmitten des Schneesturms kaum wahrzunehmen, waren Aberdutzende schreiender Kinder mit weit aufgerissenen Augen und Mündern abgebildet, die hilflosen Schneeflocken gleich zu der Ungeheuerlichkeit am Himmel emporwirbelten.
Robert atmete tief ein. »Na, kommt dir das bekannt vor?«
Das Zimmer
Andreas wachte mit einem Geschmack auf der Zunge auf, als habe er sich übergeben. Draußen auf dem Sägewerk lärmten die Band- und Kreissägen, und mit dem ersten Geräusch kehrten die Erinnerungen an die zurückliegende Nacht zurück. Kerzengrade schreckte er im Bett hoch.
»Guten Morgen!« Robert stand bleich und übernächtigt in der Tür zu seinem Schlafzimmer. Er hatte sich seine Haare zum Iro aufgestylt und hielt zwei dampfende Tassen mit Kaffee in den Händen.
»Wie spät ist es?« Andreas spähte zu dem Radiowecker auf seinem Schreibtisch, der 9.47 Uhr anzeigte. »Mist, wir haben verschlafen.«
Robert reichte ihm einen der Becher. »Schule fällt aus. Der Bus schafft es bei den Schneemassen nicht runter nach Berchtesgaden. Das ganze Dorf ist noch immer von der Außenwelt abgeschnitten. Hab’s von den Arbeitern draußen erfahren. Selbst die LKWs bleiben stecken. Angeblich sind Schneeräumfahrzeuge angefordert worden, die die Straße bis morgen wieder freiräumen sollen.« Andreas schlürfte die schwarze, heiße Brühe und sah Robert fragend an. »Du warst schon draußen?«
»Ja, hab unten in der
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