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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Goldminen und ostwärts in die offene Tundra führte, wo er sich tausend Meilen vor der Küste im Nichts verlor. Manchmal verbrachten Reisende dort die Nacht. Die Baracken, in denen die
Löschfahrzeuge gestanden hatten, waren leer, doch das Gebäude war stabil, und die alten Wände boten einen guten Windschutz. An den Steinen waren Brandspuren, und weggeworfene Dosen lagen überall herum, wo Leute durchgekommen waren. In der Regel machte ich einen weiten Bogen darum. Mit der Sorte Leute, die den Highway bereisten – aus den Gründen, die sie eben hatten –, wollte man nichts zu tun haben. Früher war die Straße ein Segen gewesen, weil sie für Handel sorgte. Man bekam die niedrigsten Preise und die neuesten Nachrichten. Aber nach einiger Zeit waren die Nachrichten nur noch schlecht. Und die Leute tauchten erst hungrig auf, dann verzweifelt und bettelnd. Schließlich kamen sie nur noch heimlich in der Nacht, schnitten dir im Schlaf die Kehle durch, nahmen alles, was sie tragen konnten, und verschwanden wie Rauch noch vor dem ersten Tageslicht. Selbst die übelsten Typen der Stadt lernten nach einiger Zeit, den Highway zu meiden.
    Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon lange keine Anweisungen mehr von irgendjemandem gekriegt, aber ich hatte immer gehofft, dass die Leute im Osten, in den anderen Städten, noch so etwas wie ein gesetzestreues Leben führten. Das war mein Trost, als ich zuerst Pa begrub, dann Ma, dann Anna und dann Charlo, und als das Leben, das wir gekannt hatten,
zu vergehen schien – wie eine alte Melodie, die niemand mehr singt. Ich dachte, dass es hier vielleicht besonders schlimm war. Oder dass uns jemand vergessen hatte. Und dass woanders das alte Leben seinen Gang ging.
    Wären da nicht diese erbärmlichen Karawanen von Frauen in Ketten und ihre berittenen Gebieter mit den harten Gesichtern. Nichts davon war Teil des alten Lebens. Ganz im Gegenteil – es machte einen glauben, dass es anderswo noch viel schlimmer war.
     
    Tatsächlich gab es dort, wo Ping das Kreuz auf die Karte gemacht hatte, einen alten Kanalschacht. Früher hatte er bestimmt einen Deckel gehabt, aber jemand musste ihn weggerollt haben, um ihn zu Werkzeug oder Waffen einzuschmelzen. Der Schacht war klein genug, um ihn zu übersehen, wenn man nicht danach Ausschau hielt, und ich vermutete, dass Ping ihn durch Zufall entdeckt hatte.
    Ich blickte mich zögerlich um, aber alles schien ruhig, also stieg ich aus dem Sattel und kauerte mich neben die Öffnung, während die Stute hinter mir zu einem Büschel Gras wanderte, das bei der Feuerwache wuchs. Außer daheim band ich sie nie irgendwo fest – mir gefiel der Gedanke nicht, dass sie gefesselt war, und ich traute ihr genug Verstand zu, Ärger aus
dem Weg zu gehen und zu mir zurückzukommen, wenn ich sie rief.
    Der Schacht warf den Klang meiner Stimme mit einem hohlen, dröhnenden Echo zurück, als ich hineinrief.
    »Jemand da unten?«
    Dann steckte ich meine Waffe ins Holster und sprang hinunter.
    Der Abfluss führte zehn bis zwanzig Meter ins Dunkel. Ich entzündete ein Talglicht und schirmte die Flamme mit der Hand ab. Erstaunlich, was meine arme alte Stadt so alles zu bieten hatte. Ein Wasserablauf, in dem man beinahe aufrecht stehen konnte. Die Wände aus gegossenem Beton, aus einzelnen Blöcken zusammengesetzt. Und in der Mitte eine Rinne voller Zweige und Blätter, die der letzte Herbstregen hier hineingespült hatte.
    In einer Nische in der Wand entdeckte ich, was wie das Nest eines Tieres aussah: Zweige, abgenagte Knochen, Stofffetzen, zerknülltes Papier. Ein verrußtes Buch am Boden. Pings Zuhause. Ein Leben wie ein Murmeltier unter einer Veranda. Sie hatte sich herausgeschlichen, um Bücher als Brennmaterial zu sammeln. Da wurde mir endgültig klar, dass hinter ihrem Bauch keine Liebesgeschichte stand.
    Ich zog mich wieder aus dem Schacht und schnalzte mit der Zunge, um die Stute zu rufen.

    Sie mussten hier Halt gemacht haben, als sie durch die Stadt gezogen waren, und sie hatten die Gefangenen in der Feuerwache eingepfercht. Und irgendwann hatte einer der Sklaventreiber seinen Blick über die müden Körper der Frauen schweifen lassen.
    Du bist dran …
    Es hätte mich gefreut, wenn sie ihn mit ihrem stumpfen Messer erstochen hätte, aber wahrscheinlich schlief er einfach auf dem Stroh ein, und sie ergriff die Chance zur Flucht. Kletterte in das Loch. Kauerte dort im Dunkeln.
    An die Monate musste sie sich dort versteckt haben, elend vor Hunger und Kälte. Ich mochte

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