Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
mir gar nicht vorstellen, wie sie gelebt, was sie gegessen hatte.
Als ich sie später zu Hause sah, fiel es mir schwer, ihrem Blick zu begegnen. Ihr Glück füllte das Haus wie helle Glöckchen, aber ich wusste jetzt, was ihr Schlimmes passiert war – und ich musste daran denken, was mir damals Schlimmes passiert war.
6
ICH KANN NICHT allzu viel über das erzählen, was als Nächstes geschah, denn es schmerzt zu sehr.
Im Juni starb Ping, und das Baby starb mit ihr.
Die Zeit danach war ziemlich hart für mich, ich sah keinen Sinn mehr im Leben. Was mir damals Schlimmes passiert war, schien – wie alles andere Übel aus den Jahren zuvor – im Vergleich dazu bedeutungslos.
Ich begrub sie beide zusammen in einem Grab, das ich im Süden der Stadt aushob. Der Platz, wo früher das Fourways Crossing war, ist jetzt von einem Ring aus Birken umgeben. Ich begrub sie in einer Kiste aus Lärchenholz und rollte einen weißen Felsen als Grabstein darüber, aber ich brachte es nicht über mich, Worte darauf zu schreiben.
Es war beinahe Mittsommer – Helligkeit rund um die Uhr und die Insekten und Vögel laut genug, um einen in den Wahnsinn zu treiben.
Ich hielt es nicht mehr aus in der Stadt, also ritt ich in die Berge. Zwei Monate verbrachte ich in diesem
Sommer in einer verlassenen Hütte an einem See. Es gab ein altes Ruderboot, und ich legte Netze im Wasser aus, um Fische zu fangen, aber wenn ich zurückdenke, ist fast alles, was in dieser Zeit geschah, verloren gegangen. Ich weiß nur, dass ich irgendwann im Spätaugust, als die langen, nachtlosen Sommertage zu Ende gingen und die Moskitos endlich gestorben waren, mein Abendessen aß, meine Stiefel anzog und dann nach draußen ging, um mich zu ertränken.
Das Boot lag an einem kleinen Schiffsanleger, weil der See hin und wieder etwas rau wurde und das Ufer felsig war. Ich holte es ein und ruderte dann zur Mitte des Sees.
Ich mag die Geräusche von Wasser, das Eintauchen der Ruder, das Gurgeln am Heck, das gelegentliche Klatschen einer kleinen Welle. Und ich liebe den Geruch, der von den warmen Lärchen aufsteigt wie Zimt von einem süßen Brötchen. In meinem Kopf vermischte sich dieser Moment zwischen Sommerende und Winterbeginn mit der Traurigkeit in der Mitte meines Lebens. Ich wusste, in ein paar Wochen würde der erste Schnee fallen und die Berge bestäuben, die das Tal wie ein Hufeisen umgaben. Und das Quecksilber würde in jene Bereiche abstürzen, in denen nur noch ein Alkoholthermometer die Kälte messen konnte: sechzig, siebzig Grad unter Null. Der See würde unter meterdickem Eis verschlossen sein,
und es würde keine Gerüche mehr in der frostigen Luft geben, und man würde keinen Laut in dieser erstarrten Welt hören.
Als ich etwa hundert Meter weit draußen war, zog ich die Riemen ein und ließ das Boot treiben. Der Himmel über mir färbte sich violett. Ich kam zu den Fischnetzen und holte sie ein. Das ist das letzte Mal, dachte ich, und ein Gefühl von Frieden breitete sich in mir aus, wie ich es seit Jahren nicht mehr gekannt hatte.
Mit lautem Klatschen fielen zwei Äschen aus dem Netz auf den Boden des Boots. Die armen Tiere! Ich griff nach einer, sie sträubte sich in meiner Hand und glitt dann über den Bootsrand. Ich warf die andere hinterher, und mit einem Silberblitzen verschwand sie im tintenschwarzen Wasser.
Ich war allein in der einbrechenden Dunkelheit.
Ich kämpfte mich aus meinen Stiefeln, stellte mich im schwankenden Boot aufrecht hin, drückte mir die Nase zu und machte mich bereit, zu springen. Ich hatte so oft über diesen Moment nachgedacht, dass es mir so vorkam, als hätte ich das alles schon einmal getan.
Dann sprang ich und stieß dabei das Boot weit von mir. Der Schock des kalten Wassers raubte mir für einen Moment den Atem. Die dicken, gefütterten Ärmel meiner Sommerjacke saugten sich mit
Wasser voll und zogen mich hinab wie bleierne Flügel, während meine Augen nicht aufhören wollten, zum Himmel zu blicken. Ich schloss sie und versuchte, mich in die Tiefe zu stoßen, aber mein Körper kämpfte gegen mich. Es fühlte sich an, als würde ich nicht mich selbst töten, sondern irgendeinen armen, widerwilligen Kerl, der nichts davon wissen wollte. Es war, als ob seine Beine mich über Wasser hielten, als ob seine flachen Atemzüge meine Lungen mit Luft füllten.
Mit der Zeit würden meine Beine schon müde werden, dachte ich mir, und der Kampfeswille würde mich verlassen, und dieser Gedanke entspannte mich. Wasser
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