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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Es kommt einem seltsam vor, Trost in Tod und Unglück zu finden, doch das Auftauchen des Flugzeugs am Himmel sagte mir, dass ich nicht allein war.
Die Leute, die darin geflogen waren, waren gestorben, aber es musste irgendwo gebaut worden sein, jemand musste es betankt und für die Reise durch die Luft vorbereitet haben. So sehr ich noch um Ping und ihr Kind trauerte, ich glaubte nicht länger, dass wir drei die Letzten der alten Welt gewesen waren. Nein, es schien, als ob dort draußen noch mehr von dieser Welt existierte und wie früher seine Wunder wirkte und Menschen und Gott weiß was in die Lüfte hob – und tief in meinem Inneren fasste ich den Beschluss, diese Welt zu finden.

8
    DA DAS FLUGZEUG vor seinem Absturz Richtung Westen geflogen war, war mein erster Gedanke, dass es aus einer der Städte zwischen hier und der Beringsee gekommen war. Fünf davon waren während der Siedlungswellen, die meine Eltern von Chicago hierhergebracht hatten, gebaut worden: Plymouth, New Providence, Homerton, Esperanza und Evangeline, die erste und um zweihundert Meilen westlichste Siedlung.
    Bestimmt hatte eine davon Benzin zusammengekratzt und das Flugzeug auf Erkundungsreise zu den anderen geschickt. In ihrer Lage hätte ich dasselbe getan. Es gab mich, also konnte es auch gut mehr wie mich geben: Jede Menge Makepeaces, die sich durch ihr einsames Leben schlugen, sich nach Kontakt sehnten, aber zu ängstlich waren, sich zu rühren – wie jemand, der sich im Wald verlaufen hatte und sich aus Angst, den Suchtrupp zu verpassen, nicht von der Stelle rührte.
    Die Städte hatten seit Jahren nichts voneinander
gehört, und selbst zu den besten Zeiten waren die Beziehungen zwischen ihnen äußerst zerbrechlich gewesen. Die Siedler waren in sich gekehrte Menschen, sie kamen nicht der Gesellschaft wegen hierher oder um Handel zu treiben wie in der Welt, die sie hinter sich gelassen hatten. Trotzdem gab es eine Art Verwandtschaft mit den jeweiligen anderen Städten. Sie kamen dem, was man früher eine Nation nannte, am nächsten.
     
    Mein Vater sagte immer, er hätte beschlossen, Amerika zu verlassen, als ihm aufgefallen war, dass die Armen alle gleich auszusehen begannen. Er meinte nicht ihre Gesichter und er meinte nicht nur die Armen der Vereinigten Staaten. Er meinte die armen Leute überall.
    Eigentlich sollten sich die Armen jedes Landes ja mehr voneinander unterscheiden als andere Menschen. Niemand ist so sehr mit der Erde verwurzelt wie sie. Was sie essen, wie sie sich kleiden, ihre Häuser, ihre Sitten – alles wächst aus dem Boden. Stroh, Palmwedel oder Rentierhaut. Reis, Weizen oder Maniok. Felle, Baumwolle oder Kammgarn. Ihr ganzes Leben wird vom Charakter und den Gewohnheiten ihres Landes bestimmt.
    Pa sagte, es fiel ihm auf, als er auf Reisen war, etwa ein Jahr, bevor er meine Mutter kennenlernte. Welches
Land der Welt es auch war – Persien oder Siam oder Indonesien, Europa oder die Südsee oder Mesopotamien – , die Armen begannen, sich zu ähneln, ähnlich zu leben, ähnlich zu essen, sich ähnlich zu kleiden. Kleider, die alle in derselben Ecke Chinas gefertigt wurden … Für ihn war das ein Zeichen, dass die Leute von ihrem Land abgeschnitten waren. Ich weiß nicht, ob er damit recht oder unrecht hatte. Als ich alt genug war, mich für seine Welt zu interessieren, lag sie bereits im Sterben.
    Er sagte, wir seien vom Mangel geformt worden, seit wir auf unseren Bäuchen aus dem Urschlamm gerobbt waren. Käse, Kirchen, gute Manieren, Sparsamkeit, Bier, Seife, Geduld, Familien, Mord, Zäune – das alles gab es, weil es nie genug gab. Manchmal gerade nicht genug und manchmal nicht einmal annähernd genug. Die Geschichte der Menschheit war die Geschichte von Leuten, die um das Überlebensnotwendige kämpfen mussten, und der Schmerz dieses Kampfes lehrte sie Duldsamkeit.
    Und doch, sagte mein Vater, war er in eine Welt des Überflusses geboren worden. Eine Welt, die auf dem Kopf stand, in der die Reichen dürr und die Armen fett waren, in der mehr Menschen auf der Erde lebten als in all den Jahren zusammen, seit Noah sein Schiff auf dem Ararat errichtet hatte.
    Man braucht gar nicht abergläubisch oder gar bibelfest
zu sein, um sich denken zu können, dass fetten Jahren magere folgen. Milliarden von Menschen, die ihre Bäuche füllen wollen – das gibt einen Aufstand, der den Planeten erzittern lässt. Die Sorgen meines Vaters aber waren nicht praktischer Natur, er glaubte, dass diese Leute schon irgendwie

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