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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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machte der Junge ein Feuer, damit er die Männer, wenn sie schließlich auftauchten, mit einer Tasse Tee begrüßen konnte.
    Der Hirte, der mir diese Geschichte erzählte, fand sie so lustig, dass er dabei fast Tränen lachte. Er machte eine große Show daraus, tat so, als entfache er ein Feuer, imitierte das Geräusch schmieriger Blasen, die an die Wasseroberfläche stiegen. Stellt euch nur vor, dieser Junge hatte eine solche Ehrfurcht vor dem Zauberding des weißen Mannes, dass er glaubte, ein Flugzeug lande immer so!
    Die Geschichte scheint sich über die Unbedarftheit des Jungen lustig zu machen, die eigentliche Zielscheibe des Spotts aber sind Levanevskii und sein havariertes Flugzeug. Denn beim Anblick dieses Flugzeugs,
dieses Wunderwerks, müssen sich die Tungusen sehr klein vorgekommen sein. Sie behaupten oft, ihre Schamanen könnten fliegen. Nun, ich habe ein paar Schamanen getroffen, und sie verstehen bestimmt eine Menge vom Trinken, aber ihre Flugkünste sind keinen Pfifferling wert. Levanevskiis Flugzeug war wie Geprahle von oben, es war der weiße Mann, der sagte: Schaut, was wir können! Und jeder sieht gerne, wie ein Angeber vom hohen Ross fällt.
    Die Geschichte bestätigte die Tungusen in dem, was sie aus eigener Erfahrung wussten, auch vom Umgang mit Leuten wie mir, dem Überbleibsel der anderen Lebensweise: Die Zeit gleicht alles aus, die einfachen Dinge haben Bestand, und der Wichtigtuer mit seinen schlauen neuen Ideen bleibt auf der Strecke. Wie lange sich etwas behaupten wird, erkennt man am besten daran, wie lange es das Ding schon gibt. Die neuesten Sachen verschwinden als Erste. Und was schon eine ganze Weile da ist, wird auch noch eine ganze Weile bleiben.
    Diese Hirten litten seit Jahren unter jenen, die meinten, besser zu sein oder mehr zu wissen. So wie ich es mit meinen dürftigen Geschichtskenntnissen verstanden habe, hat man ihre Heiligen Männer getötet, ihre Dörfer auseinandergerissen, ihre ganze Lebensart aus ihnen herausgeprügelt – alles im Namen des Fortschritts. Wenn sie beim Erzählen der Geschichte
mit dem Flugzeug also ein bisschen selbstzufrieden wirkten, kann man das verstehen, denke ich.
    Aber wann immer ich die Geschichte höre, geht mir etwas anderes durch den Kopf. Ich denke: Wozu der Mensch doch fähig ist! Was gibt es, das wir nicht hinbekämen, wenn wir es uns in den Kopf setzen? Ich empfinde Ehrfurcht vor meinen Vorfahren, die von so viel mehr Wissen umgeben waren, als in den Kopf eines einzelnen Menschen passt. Natürlich kann man sagen, dass sie ihr Leben übermäßig kompliziert haben und dadurch schwach wurden. Man kann aber auch einfach ihren Einfallsreichtum bewundern und hoffen, dass das, was sie taten, eines Tages erneut getan werden kann.
    Jedenfalls, als ich wieder zu mir kam, stand der Wald in Flammen, und meine Augenbrauen und ein Teil meiner Haare waren versengt. Mein Schlüsselbein war gebrochen, und ich war so benommen von dem Knall, dass ich kaum etwas hörte. Ich lag auf dem Rücken auf einem Lager aus Büschen und sah zu, wie sich schwarzer Rauch in den Himmel schob und die Sterne verdeckte, und ich dachte: Hallelujah, wir sind wieder da!
     
    Die Stute sah mich vorwurfsvoll an, als ich schließlich zur Hütte zurückkam. Ich fing Omul vom Ufer aus und sah dann dem Feuer zu. Es brannte drei Tage
lang, und es dauerte fast eine Woche, bevor ich mich dem Wrack auch nur nähern konnte. Und dann gab es nicht mehr viel zu entdecken: ein Skelett aus rußgeschwärztem Metall, Propeller, einige verkohlte Kisten, die von der Explosion durch die Luft geschleudert worden waren und mir beinahe den Kopf abgerissen hatten.
    Die Hitze war so stark, dass es schwer zu sagen war, wie viele Leute im Flugzeug gewesen waren, ich schätzte aber fünf oder sechs. Ich begrub, was ich bei meinen Vorstößen in den Wald finden konnte, damit keine Tiere an die Knochen gingen, und markierte die Stelle mit einem schlichten Kreuz, das ich mit einem Stein in den Boden schlug.
    Wie ich aber so darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass das beste Grabmal für diese Leute das Flugzeug war, in dem sie gestorben waren. In all den Jahren hatte ich nichts Schöneres als dieses Flugzeug gesehen, wie es seinen Bogen durch den Himmel über dem Tal beschrieben hatte.
    Ich bin nicht abergläubisch, aber ich sah das Flugzeug als eine Art Zeichen – von Gott oder den Göttern oder den Vorfahren oder wer immer dort oben ist –, dass ich mich nicht der Verzweiflung hingeben sollte.

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