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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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begann mir in Mund und Nase zu sickern. Ich musste pinkeln, und eine warme Wolke breitete sich um mich aus. Ich wartete auf die letzte Bilderflut vor meinem inneren Auge, darauf, dass sich mein ganzes jämmerliches Leben wie ein Teleskop zu diesem einen Moment zusammenschieben würde. Ich konnte noch immer meinen rasselnden Atem hören, aber dahinter lag nun eine tiefere Note, wie das Streichen über eine tiefe Saite eines Kontrabasses, das mich zu sich zog – der Klang meines Todes.
    Ich lehnte mich zurück. Das Wasser blubberte und zog sich über meinen Ohren zusammen und dämpfte den Klang. Mein ganzer Körper begann zu zittern. Und der pochende Bass wurde lauter. Meine Augen
flatterten auf, um einen letzten Blick auf die Welt zu werfen.
    Über mir ein winziger Fleck, der sich steil in die Kurve legte und dann auf die nördlichen Hänge zuhielt.
    Ein Flugzeug.
    Wie vom Donner gerührt verfolgte ich, wie es hinter dem Gebirgskamm verschwand. Dann hörte ich einen fernen Knall, gefolgt von lauterem Krachen – Bäume, die unter dem Gewicht des Flugzeugs zusammenbrachen. Das Geräusch hallte für eine Weile durch das Tal. Dann wieder Stille.
    Meine Finger waren so taub und kalt, dass es ziemlich lange brauchte, die Knöpfe meiner Jacke zu öffnen. Aber schließlich hatte ich mich von ihrem Gewicht befreit und konnte zum Boot schwimmen. Dort angekommen, war ich zu schwach, um hineinzuklettern, also klammerte ich mich ans Heck, erbrach Wasser und strampelte mit den Beinen, um das Boot ans Ufer zu bringen.
     
    Es war nach Mitternacht, als ich endlich das Wrack erreichte. Ich hatte etwas Derartiges so lange nicht mehr gesehen, dass es mir wie eine Erscheinung vorkam und ein Teil von mir glaubte, sich auf dem Grund des Sees zu befinden und das alles nur zu träumen.

    Es war ein Doppeldecker, rot und weiß bemalt, mit Reifen für den Sommerflug. Der Steuerbordflügel war beim Absturz weggerissen worden – ich fuhr mit dem Finger über die metallenen Zacken.
    Und dann dieser Geruch. Er schien zu einem alten Kindheitstraum zu gehören, der jetzt in Wellen zu mir zurückkehrte: Wie Pa damals das Auto zum letzten Mal auf Blöcke stellte und es mir überließ, den Tank mit einem Stück Schlauch in einen Kanister zu entleeren. Wie ich so stark saugte, dass ich Benzin verschluckte. Wie ich mich erbrechen wollte, aber nicht konnte, und wie meine Scheiße am nächsten Tag ganz teerig und dunkel war.
    Benzin. In diesem Wald roch es so stark nach Benzin, dass man sich daran hätte besaufen können. Wie dieses schimmernde, scharfe Gefühl, das man kriegt, wenn man seine Nase über ein Glas warmen Whiskey hält.
    Und dann plötzlich erstrahlte der ganze Wald für eine Sekunde heller als der Mittag, als hätte ein Blitz eingeschlagen. Der Donner folgte keine Sekunde später, und er warf mich um und schickte mich in die Dunkelheit, die ich auf dem Grund des Sees erahnt hatte.

7
    DIE TUNGUSEN ERZÄHLEN SICH, dass vor Gott weiß wie vielen Jahren, als die ersten Piloten den Osten erschlossen, einer namens Sigizmund Levanevskii losflog, um eine Route weit im Norden zu erkunden.
    Zu jener Zeit waren die Maschinen klein und schmal, ohne schicke Instrumente, und man musste niedrig fliegen und vermeiden, dabei die Erde zu küssen oder sich im Wetter zu verlieren.
    Nach zwei oder drei Tagen gerieten Levanevskii und seine Leute in Schwierigkeiten. Die Motoren fielen aus. Sie hatten keine Fallschirme, und das Land unter ihnen war ein Ozean aus Wäldern.
    Wissend, dass für sein Flugzeug jede Hilfe zu spät kam, pokerte Levanevskii darauf, dass wenigstens ein paar seiner Männer den Absturz überleben würden, wenn er es schaffte, die Maschine auf einem See runterzubringen. Doch das Flugzeug klatschte aufs Wasser und versank in Sekundenschnelle, und zurück blieb nur ein Ölfleck und zischender Dampf.
    Die Regierung startete eine groß angelegte Suchaktion
nach dem Wrack und den Toten, aber sie wurden nie gefunden.
    Die Tungusen allerdings werden dir erzählen, dass durchaus jemand den Absturz verfolgt hat. Der Ur-Ur-Ur-Großvater eines von ihnen hütete gerade Rentiere an dem See, als die Unglücksmaschine aus dem Himmel gestürzt kam. Dieser Mann, der damals ein Junge gewesen war, sah das Flugzeug ins Wasser schlagen, entzweibrechen und beinahe augenblicklich versinken. Sekunden später lag wieder Stille über dem Tal, doch die Oberfläche des Sees war von dem Aufschlag so aufgewühlt, dass Wellen über die Stiefel des Jungen spülten. Dann

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