Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
ernährt werden würden, dass der Preis des Überflusses jedoch eine geistige Armut war. Er wollte einer Welt den Rücken kehren, die seiner Ansicht nach ohne Würde und Anstand war.
Es muss den Tungusen schwergefallen sein, zu verstehen, wie jemand ihr hartes Leben beneiden konnte. Aber Menschen wie mein Vater träumten davon, ihre Städte zu verlassen, frische Wurzeln in den Boden zu pflanzen, in dem handgemachten Flickenteppich der Welt ihrer Vorväter zu leben. Sie gaben diesem Leben den Vorzug vor – ich weiß nicht, wovor – vor jenen Träumen von Geschwindigkeit und Glas und Luxus, die Menschen haben, die wissen, dass sie nie hungern werden.
In früheren Jahrhunderten hätten Menschen wie mein Vater wohl den König um einen Titel ersucht und die Segel gesetzt, um eine Kolonie zu gründen. Die Erde aber war voll, es gab keinen Ort, wo man von vorne anfangen konnte. Ja, selbst auf dem Mond stand damals eine Flagge.
Ich glaube, man schlug ihnen Sibirien als Scherz
vor. Sie sahen es als ein Land des Eises, eine Wüste aus Fels und Schnee, die sich vom Ural bis zum Pazifik erstreckte und zehn Monate im Jahr vom Wind gepeitscht wurde. Ein Glück für uns, dass sie das so sahen.
Und so schickte die Kirche meinen Vater und einen anderen Mann auf Erkundungsreise. Sie flogen nach Moskau und reisten mit dem Zug nach Irkutsk.
Nichts hier ähnelt im Geringsten jener Eiswüste, von der die Leute gesprochen hatten. Der nördlichste Punkt, an dem ich je war, war bei den Tschuktschen oben in der Tundra. Ich war fünfzehn, und mein Vater nahm mich mit statt Charlo, nicht nur, weil ich älter war, sondern auch, weil er eine schwierige Reise erwartete. Er schätzte meine ausdauernde, pragmatische Art, gerade weil die anderen alle nur redeten und dachten – und das ist mir heute ein kleiner Trost, hatte ich mir doch so viele Jahre gewünscht, gebildeter und sanfter zu sein, eine Tochter, auf die er stolz sein könnte.
Jedenfalls, selbst das Land der Tschuktschen war alles andere als eine eisige Wüste. Es war Sommer, und das Land war purpurn und braun. Arktische Weide und Rhododendron wuchsen in der sumpfigen Erde. Sie hielten sich Hunde, als Zugtiere und wegen des Fells. Die Gewässer waren randvoll mit
Lachsen, und es gab essbare Krabben mit Beinen, die einen ganzen Fuß lang waren. Ich sah Robben und aß Walross und beobachtete, wie Wale aus dem kalten grünen Wasser der Bucht brachen und Fontänen in den Himmel bliesen. Das Land war weder unfruchtbar noch arm, und das war ganz oben, am Rand des Polarkreises.
Mein Vater sagte später, er hätte sich in dieses Land verliebt, kaum dass er den Zug verlassen hatte. Tag für Tag waren Birken und Kiefern am Fenster vorbeigerauscht und kleine Ortschaften aus Holz und Kirchen mit vergoldeten Zwiebeltürmen. Er sagte, er hätte sich gefühlt, als kehre er an einen Ort zurück, den er im Traum gesehen hatte. Oder in den Bilderbüchern seiner Kindheit.
Ich glaube, ich weiß, was er damit meinte – aber ich habe nie eine andere Landschaft gekannt. Ich wuchs mit Bären in den Wäldern hinter unserem Haus auf und Wölfen und giftigen Pilzen und einer verfallenen Brücke, unter der bestimmt einmal ein Troll gehaust hatte, und so schienen mir die Bilderbücher nie allzu weit hergeholt. Was weit weg war, war das Leben in der Stadt. Oder die Geschichten meines Vaters von Chicago. Oder das Flugzeug, das ich mit eigenen Augen auf dem Berghang hatte zerschellen sehen.
Die russische Regierung hatte uns das Land verpachtet, damit wir es bebauen und bestellen konnten. Wieso hatten sie uns eingeladen? Ganz einfach: Sie wollten, dass wir die leeren Flecken ihres riesigen Reiches füllten, so wie man Teile einer starken, jungen Pflanze verpfropft. Die Leute hier waren krank und ausgelaugt, und die Chinesen jenseits der Grenze warfen hungrige Blicke auf Russlands leere Regionen.
Indem sie kleinere Landstriche weit im Norden verpachteten, füllten die Russen das Land mit europäischen Siedlern. Und diese Siedler bekamen mehr Land, als sie gebrauchen konnten. Es schien uns eine sichere Sache zu sein. Die Sommer im Norden wurden länger und die Winter milder, und niemand machte sich allzu große Sorgen, dass das, was unseren Wintern den Biss nahm, die übervölkerten Gebiete des Globus heiß und hungrig und unruhig werden ließ.
Ich wurde zu Beginn jener frühen Jahre geboren, in jener trügerischen Dämmerung, die in Wirklichkeit schon der Einbruch der Nacht war.
Damals aber folgten unserer
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