Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
die Tür, denn er braucht Wasser und einen Verband, um die Blutung zu stillen. Da öffnet ihm sein Freund, blickt ihn an und sagt mit todernster Miene: ›Wie ich sehe, hast du Flossie schon kennengelernt.‹«
Vielleicht hatte ich es einfach nicht mehr drauf, Geschichten zu erzählen, schließlich hatte ich in letzter Zeit wenig Gelegenheit gehabt, in Ruhe ein Schwätzchen zu halten. Die Stille jedenfalls, die sich ausbreitete, nachdem ich fertig war, erinnerte mich an das Scheppern, mit der die beiden Holzfäller die Säge auf den Baumstamm hatten fallen lassen.
Schließlich sagte der Mann mit dem Gewehr: »Es ist schlimm mit den Bären hier in der Gegend. Je weniger es von uns gibt, desto mehr scheint es von denen zu geben.«
Und der Mann mit den großen blauen Augen sagte gar nichts, sondern blickte ein wenig enttäuscht drein, als hätte er eine ganz andere Art von Geschichte erwartet.
Also erklärte ich, dass ich ihnen diese Geschichte erzählt hatte, weil sie dieses Land Neu-Judäa genannt hatten.
Aber sie sahen mich weiterhin ratlos an.
»Ich will damit wohl Folgendes sagen: Wenn etwas schrecklich und gefährlich ist, muss man einen netten Namen dafür finden, um nachts etwas ruhiger schlafen zu können.«
Das machte es auch nicht verständlicher, und meine Erklärung raubte der Geschichte den letzten Witz.
»Wie nennst du denn die Gegend?«, fragte der Großäugige.
Darauf wusste ich keine Antwort. Ich hatte gar keinen Namen dafür. Ich war nicht wie die Tungusen, die schon so lange hier waren, dass jeder Ort eine Bedeutung für sie hatte. Für mich waren es einfach die Stadt, das Land, der Schnee, der Himmel, die Bären. Wenn es überhaupt etwas für mich war, dann war es der Norden.
Mein Vater hatte einen Ausdruck dafür, wenn etwas ein schlechtes Ende nahm. Er sagte, es sei »westwärts gegangen«. Allerdings klang »nach Westen gehen« für mich immer ziemlich gut, schließlich zieht auch die Sonne nach Westen, und in dem bisschen, was ich an Geschichte kenne, sind Menschen immer wieder nach Westen gezogen, um zu siedeln und in Freiheit zu leben. Unsere Welt dagegen war nach Norden gewandert, im wahrsten Sinne, und wie weit genau, begann ich gerade erst zu begreifen.
Wir bogen von der Straße auf einen schmalen Waldweg ab. Wir waren seit etwa fünfzehn Minuten
unterwegs. Ich sagte: »Ihr Gentlemen seid ja ziemlich wählerisch, was für Holz ihr schlagt.«
Der Mann mit dem Gewehr wusste, worauf ich hinaus wollte, also war er zumindest nicht begriffsstutzig. »Wir schlagen es nicht gerne allzu nah bei der Siedlung. Wir führen ein ruhiges Leben, und wir wollen von niemandem dabei gestört werden.«
Das klang sinnvoll. Diese Straße konnte einem Ärger ohne Ende bescheren, und ich hatte vermutlich bisher einfach Glück gehabt.
Wir gingen noch ein wenig weiter durch den Wald, bis wir schließlich zu dem Ort kamen, den sie Horeb nannten.
Es war nicht im Geringsten das, was ich erwartet hatte. Sie hatten eine Menge Arbeit in die Siedlung investiert, keine Frage, aber es war kein Ort, von dem unsere Eltern eine allzu hohe Meinung gehabt hätten.
Der schmale Pfad mündete in eine Lichtung von vielleicht einem Morgen Größe, und direkt in der Mitte stand eine fünfeckige Einfriedung mit einem Tor, die etwa ein Viertel der gesamten Lichtung einnahm. Offenbar gab es im Inneren einige Gebäude, denn ich sah Rauchfahnen aufsteigen.
Die Männer bedeuteten mir, zu warten, und verschwanden dann mit dem Holz im Inneren.
Sie blieben ziemlich lange weg, und ich konnte
Augen sehen, die mich durch die Ritzen in der Palisade anstarrten, also begann ich mich zu fragen, ob sie nicht einen Hinterhalt vorbereiteten. Bestimmt vergingen zwanzig Minuten, ehe sich das Tor wieder öffnete und ein halbes Dutzend Männer herauskam, angeführt von einem in einer schwarzen Robe, sowie, was noch merkwürdiger war, einer Frau in etwa meinem Alter. Die Frau stellte einen Korb zu meinen Füßen ab, in dem sich etwas graues Salz und der kleinste Laib Brot, den ich je gesehen hatte, befanden.
Es war ein reichlich seltsames Begrüßungskomitee, und einige der Gesichter sahen auch nicht gerade freundlich drein. Der Mann in Schwarz, der vorneweg ging, starrte mich mit einem heiligen Gesichtsausdruck an, bei dem ich am liebsten gekichert hätte. Dann umarmte er mich plötzlich, und ich verkrampfte mich, weil ich eben nicht gerne von einem Mann angefasst wurde. Ich bemerkte, dass er eine Art Parfüm aufgetragen
Weitere Kostenlose Bücher