Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
Vom Netzwerk:
später damit gehen würde. Um sie herum ein Dutzend Männer auf Pferden.
    Die Gefangenen waren in Gruppen von jeweils zehn zusammengekettet. Eine der Wachen stieß einen Pfiff aus, und die Gruppe, die mir am nächsten war, stand auf. Dann sprang die Wache vom Pferd
und kettete mich an den letzten Mann in der Gruppe, einen Kerl von etwa fünfzig Jahren mit verfilztem Bart und einer verschlissenen Kaninchenfellmütze auf dem Kopf. Niemand sprach ein Wort.
    Die Reiter ließen die anderen Gefangenen ebenfalls aufstehen, positionierten sich dann an den Flanken der Reihe und warteten. Schließlich löste sich ein Reiter von der Spitze des Zugs und ritt die Reihe entlang, vergewisserte sich, dass alles zu seiner Zufriedenheit war. Er sah mich nicht an, aber als er wendete, um die andere Flanke abzureiten, erblickte ich sein Gesicht und erkannte ihn: Es war der Mann, dem ich vor langer Zeit, in einem anderen Leben, am Rande meiner Stadt auf dem Highway begegnet war.
    Schließlich galoppierte er zur Spitze der Karawane, die, so schätzte ich, sechzig Meter lang war, und der Bärtige wandte sich mir zu, als wolle er noch etwas sagen, doch da erklang schon der Abmarschbefehl, und wir setzten uns in Bewegung und sparten uns unseren Atem zum Laufen auf.

ZWEITER TEIL

1
    DER ORT, den sie den »Stützpunkt« nannten, lag fast tausend Meilen westlich von Evangeline, nahe eines Zuflusses der Lena.
    Wir erreichten ihn nicht vor Mittsommer. Eine Ewigkeit, so schien es, stolperten wir stumpf die Straße entlang und mussten immer wieder unsere Blasen behandeln. Wenn das überhaupt möglich war, dann war der Highway hier noch verlassener als im Osten. Wir sahen keine Menschenseele, nur ausgebleichte Knochen am Straßenrand und in der Ferne verlassene Siedlungen.
    Sie kürzten unsere Ketten, damit wir uns schneller bewegten und um Essen zu sparen – jedes Kettenglied hatte seinen Preis in Mehl.
    Die Karawane reiste mit ihrer eigenen Verpflegung. Die Planwagen transportierten Mehl in Säcken, das zu Brei gerührt oder zu kleinen Pfannkuchen gebraten wurde. Manchmal ging eine der Wachen jagen, und dann hielt uns der Geruch des gebratenen Fleisches wach, kitzelte in unseren Nasen. Wenn man beim
Weckruf schnell genug war, bekam man zuweilen ein paar Reste davon, Knochen oder Knorpel, die einen daran erinnerten, wonach echtes Essen schmeckte.
    Der Mann, an den sie mich gekettet hatten, war ein Mohammedaner namens Shamsudin. Fünf Mal am Tag kauerte er sich hin, wusch seine Hände im Staub und betete Richtung Mekka – oder wo es einmal gelegen hatte. Shamsudin hatte sich mit einem Burschen namens Zulfugar angefreundet, aber wenn Gefangene sich allzu gut verstanden, trennten die Wachen sie voneinander. Wie wir ihrer Meinung nach mit unseren bloßen Händen überleben sollten, mit zwanzig Pfund Stahl an den Füßen, in dieser Wildnis, weiß ich nicht, jedenfalls stellten sie mich neben Shamsudin, um die beiden auseinanderzubringen.
    Die Wachen ließen uns selten aus den Augen, also bekam ich nur stückchenweise Informationen aus ihm heraus. Einmal, als ich mich an einer Wasserstelle neben ihn kauerte, erzählte er mir, dass er sechsundvierzig Jahre alt sei und aus Buchara stamme, einer jener alten Seidenstädte im Süden. Er war in den Fernen Osten gegangen, um sich zum Chirurgen ausbilden zu lassen, und zurückgekommen, um in seiner Heimatstadt in einem Krankenhaus zu arbeiten. Er war ein wohlhabender Mann gewesen, und es war ihm gelungen, sich die Reise nach Norden zu erkaufen, als die Unruhen begannen.

    Ich sagte ihm, es brauche meiner Erfahrung nach lediglich drei Tage, bis Verzweiflung und Hunger jede Spur von Zivilisiertheit in einem Menschen überwältigen. Er lächelte und erwiderte, ich hätte einen wirklich freudlosen Blick auf die menschliche Natur und seiner Erfahrung nach seien es eher vier Tage. Seine Ketten rasselten, als er mit den Händen Wasser schöpfte.
    Ich fragte ihn, was für eine Art von Operationen er gemacht habe, früher.
    »Nasen«, sagte er, und da war nur der Hauch eines Lächelns.
    »Du warst Nasenchirurg?«
    »Ich habe Frauen schöner gemacht.«
    »Aber ich dachte, Moslemfrauen verschleiern sich ohnehin.«
    Er lachte, und dann kamen die Wachen und befahlen uns, weiterzugehen. Wie ein großes, widerstrebendes Tier setzten wir uns langsam in Bewegung.
    »Schätze nicht, dass du für mich etwas tun kannst«, flüsterte ich Shamsudin mit einem Zwinkern zu.
    »Mit der Nase ist alles bestens.«
    »Ich dachte nicht an

Weitere Kostenlose Bücher