Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
einer der Gefängniswärter die Tür weit aufgemacht und gesagt hätte, dass es Zeit sei, zu gehen.
Er warf mir eine abgewetzte Steppjacke hin und einen Hut und ein paar schmierige Fäustlinge. Ich dachte an meine warmen Schneeschafhandschuhe und an meine Vielfraßhosen und fragte mich, wer sie jetzt wohl trug.
Ich zog die Sachen an, schlurfte raus ins Licht und blinzelte wie ein Tier, das die meiste Zeit im Dunkeln lebt. Der große Versammlungsplatz von Horeb war kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, gerade so groß wie unser Hof daheim. Die Tore am Zaun waren geöffnet, und die Bewohner der Siedlung hatten sich in zwei Reihen aufgestellt und bildeten so einen Korridor für mich. Sie sahen schweigend zu, wie ich, begleitet von zwei Wachen, mit rasselnden Ketten an ihnen vorbeihinkte.
Ich suchte in ihren Gesichtern nach einem Hinweis darauf, was das alles zu bedeuten hatte, aber sie waren alle grau und wie versteinert. Schließlich erhaschte
ich einen Blick auf Violet. »Sie wird sich noch wünschen, gehängt worden zu sein«, verkündete sie der Menge, und es gab zustimmendes Murmeln.
Boathwaite stand auf einem Vorsprung oben auf der Palisade. Er trug eine schwarze Soutane und hatte eine Bibel unter den Arm geklemmt. Durch das Tor konnte ich Männer auf Pferden sehen, die offenbar auf mich warteten.
Der Reverend wich meinem Blick aus. Er rief die Gemeinde auf, kurz innezuhalten, und sprach dann ein Gebet. Er vertraute mich Gottes Fürsorge an und bat um Gnade für mich.
Während sie alle vor sich hinmurmelten, sah ich mich gründlich um. Es ging auf April zu, und man roch bereits, wie die Welt nach dem langen Winter zu Leben erwachte. Der Boden der Siedlung war zu Matsch geworden. Eine Ewigkeit schien seit der Hoffnung des letzten Frühlings vergangen zu sein.
Sie beendeten das Gebet mit einem kehligen »Amen«, und ich rief: »Und möge Gott auch euch gnädig sein!«
Das war während ihres Murmelns in mir hochgestiegen und hatte sich nun in einem lauten Rufen Bahn gebrochen. Tatsächlich war es so laut, dass es die Luft wie einen Gewehrschuss zerriss und die, die mir am nächsten standen, zusammenzuckten. »Wie
kann sie es wagen?«, riefen einige daraufhin empört und drängten auf mich zu, nicht unbedingt gewaltbereit, eher wie eine Rinderherde, die einen zu Tode trampeln konnte.
Die Wachen packten mich, und ich schwankte und fiel auf die Knie, aber sie zogen mich gleich wieder hoch und stießen mich vorwärts durch das Tor. Dann hielten sie inne und ließen mich alleine weitergehen.
Einer der Reiter schwang sich aus dem Sattel, ging zu mir und zog ein Seil durch die Öse in meinem Gurt. Er tat das routiniert und gleichgültig – es war nichts anderes, als Vieh zusammenzutreiben oder Hufe zu beschlagen. Schließlich stieg er wieder auf sein Pferd und trabte los.
Ich befürchtete, nicht Schritt halten zu können und in den Schneematsch zu fallen und hinterhergeschleift zu werden, aber sie ritten langsam. Dennoch war es äußerst mühsam, mitzuhalten.
Sie ritten den Pfad entlang durch den Wald zu jener Stelle, wo er auf den Highway traf – dort, wo ich damals die Männer beim Holzfällen beobachtet hatte.
Ich war so geschwächt von dem üblen Essen und dem Eingesperrtsein, dass ich nach jedem Dutzend Schritte dachte, ich würde kein weiteres Dutzend mehr schaffen. Das Fleisch ist schwach, heißt es, aber ich bin der Überzeugung, dass das Fleisch stark ist.
Nur der Geist ist schwach. Es ist der Verstand, der dir rät, aufzugeben, dich in den Schnee zu legen. Frauen wissen, wozu der Körper in der Lage ist. Schmerz, der sich so anfühlt, als würde er dich zerreisen – aber er zerreißt dich nicht.
Während meine Muskeln also aufschrieen, stolperte ich weiter, zählte meine Atemzüge, versuchte, mich von mir selbst zu lösen. Zuerst versuchte ich es zu verzweifelt, meine Gedanken waren panisch und kamen nicht zur Ruhe. Aber schließlich überkam mich ein Gefühl des Friedens. Ich zählte nicht länger meine Schritte, sondern gab mich ganz der Bewegung hin.
Bis auf das Tropfen des schmelzenden Schnees war der Wald still, und ich dachte, dass wir ganz alleine wären, doch als wir zur Straße kamen, stießen wir dort auf eine ziemlich große Gruppe Menschen. Sie hatten sich auf die Straße gehockt, offenbar um sich auszuruhen, und versuchten, ihre Kleider frei von Schneematsch zu halten. Einige waren aber auch so erschöpft, dass sie sich auf den nassen Boden gelegt hatten, egal wie es ihnen
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