Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
dieses Auto im Sinn, murmelte er auf Russisch vor sich hin, schüttelte er den Kopf wie ein Jäger, dem gerade ein weißer Elch durch die Lappen gegangen war.
Wenn man jemanden verliert, der einem nahestand, gibt es Momente, in denen einen der Schmerz überwältigt und in die Knie zwingt. Und es gibt Momente, in denen das nur eine weitere Tatsache ist, wie der Sonnenaufgang oder die Farbe der Fensterbank. Auf die eine oder andere Weise haben wir uns so alle dem Verlust jener Welt gestellt, die uns unsere Vorfahren vermacht hatten. Bei mir etwa lösten ganz bestimmte Dinge den Schmerz aus. Frische Wäsche zum Beispiel – Wäschewaschen hatte etwas so erschreckend Normales, Beruhigendes an sich. Aber glücklicherweise kamen wir auf unserem Marsch nicht an allzu viel sauberer Wäsche vorbei. Für Zulfugar jedenfalls war es offenbar dieses alte Auto, das die Erinnerungen wiederbrachte.
Wir verloren elf Leute auf unserem Marsch: die beiden, die Hansom tötete, eine Wache, die von ihrem Pferd abgeworfen wurde, der Mann mit dem Abszess am Fuß und vier weitere Gefangene – ein Herzinfarkt, ein Schlangenbiss, einmal Malaria und ein alter Mann namens Christopher Irgendwas, der eines Morgens einfach nicht mehr aufwachte. Ich beneidete diesen Christopher ein wenig.
Ich war, ehrlich gesagt, überrascht, dass wir nicht mehr verloren, aber unser Anführer verstand seine Arbeit: Er wusste, wann er uns hart antreiben musste,
und er wusste, wann er langsamer machen musste. Und er hielt die Disziplin der Wachen aufrecht – obwohl sie ziemlich viel tranken, artete es nie zu Gewalttätigkeiten aus.
Einmal ritt er direkt zu mir und sagte leise: »Du hast es dir also mit meinem Bruder Silas verdorben.«
Er war etwas hinter mir, und ich musste mich leicht verrenken und in die Sonne blicken, um sein Gesicht zu erkennen. Ich sagte, er müsse sich irren, ich kenne niemanden dieses Namens.
»Ich bin Caleb Boathwaite«, sagte er. »Mein Bruder Silas ist der, der dich hierhergeschickt hat.« Er hatte sich als Schutz vor dem Staub ein Tuch um die Nase gebunden, das er jetzt tiefer zog. »Er sagte mir auch, dass du eine Frau bist. Ich hatte dich für einen Mann gehalten, als wir uns damals vor dieser Stadt trafen. Wo war das noch gleich?«
»In Evangeline.«
»Genau. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, warum du die Stadt verlassen hast. Jemand wie du, der umherzieht und an meinen Bruder gerät – so etwas macht mich nervös.« Er lächelte, wie um zu sagen, dass nichts in der Welt einen Mann wie ihn je aus der Fassung bringen könne.
Ich fühlte, wie meine Wangen unter der Staubschicht glühten, aber ich blieb still.
Caleb Boathwaite sah mich noch einen Augenblick
lang an, dann gab er seinem Pferd die Sporen und ritt wieder an die Spitze des Zugs. Danach sprach er auf dem Marsch nicht wieder mit mir, doch häufig bemerkte ich, wie er mich beobachtete, und wenn er das gerade nicht tat, hatte er extra eine der Wachen abgestellt, um mich im Auge zu behalten.
Jetzt, da ich wusste, dass sie miteinander verwandt waren, erkannte ich viele Ähnlichkeiten zwischen Caleb und seinem Bruder, dem Reverend. Beide hatten sie dieselben dünnen Nasen und dieselben schlauen Augen, die ihr Gegenüber in Sekundenschnelle abschätzen. Wenn überhaupt, war mir Caleb von den beiden lieber – er neigte nicht dazu, seine Taten mit religiösem Popanz zu beschönigen, er machte sich nichts vor. Aber als ich ihn mit der Zeit besser kennenlernte, erkannte ich, dass er weitaus gefährlicher war als sein Bruder. Seinen Blick hatte ich schon bei so manchen Männern gesehen, und er verhieß nie etwas Gutes. In früheren Zeiten sah vielleicht ein Kapitän so aus oder ein Forscher, der seine Männer in unbekannte Gebiete zwang, oder ein General, der seine Soldaten bedenkenlos in den Tod schickte. Aber in unserer Zeit war die Auswahl an möglichen Eroberungen deutlich begrenzter, und so war aus Caleb Boathwaite ein Sklavenhändler geworden.
Die Gefangenen ahnten, wohin die Reise ging, aber niemand wusste es sicher. Gerüchte wanderten durch die Reihen, jeden Tag ein anderes. Einer meinte, er hätte die Wachen sagen hören, dass wir in einen Krieg zogen. Ein anderer behauptete, der »Stützpunkt« sei eine Mine und man würde uns in kilometertiefe Stollen schicken. Was mich betraf, so versuchte ich, gar nicht erst so weit vorauszudenken, sondern mich auf das Naheliegende zu konzentrieren – weiterzumarschieren, Nase und Augen staubfrei zu halten.
Keine
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