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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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weiterzogen.
    Als ich den Turm der Feuerwache sah, der sich stolz über die Bäume erhob, spürte ich, wie mein Herz schneller schlug. Der Zug hielt an, und die Wachen teilten Wasser aus. Es gab lediglich eine Blechtasse für alle, und so hatten sich die meisten Gefangenen, ich eingeschlossen, nach Tungusenart eigene Tassen aus Birkenrinde gemacht. Das war sauberer, als die Tasse zu teilen, und der Birkensaft süßte das Wasser leicht. Außerdem gab einem allein der Besitz einer Sache, egal wie wenig es war, etwas an Würde zurück.
    In diesem Moment, als wir am Rande jener Stadt standen, die einst meine ganze Welt gewesen war, fühlte ich mich – und das nicht zum letzten Mal – wie der Schatten meines früheren Ichs. Ja, ich meinte sogar aus der Ferne meine eigene Stimme nach mir
rufen zu hören, aber sie wurde von den Wachen überdeckt, die die Reihen entlangritten und uns zum Weitergehen aufforderten.
     
    Nachdem der Schnee geschmolzen war, gab es wochenlang keinen Regen, und der Staub, den unsere Füße aufwirbelten, bildete eine beißende Wolke um uns herum, bedeckte die Bäume am Straßenrand, färbte die Gesichter der Gefangenen grau. Unsere Augen lagen feucht und blutunterlaufen in Masken aus Asche.
    Die Wachen ritten nicht gerne am Ende des Zugs, wo der Staub am schlimmsten war, und so lockerte sich die Disziplin für uns ganz hinten ein wenig. Wir konnten uns etwas freier unterhalten, und in dieser Zeit lernte ich Zulfugar kennen. Er war um die fünfunddreißig, einen ganzen Kopf kleiner als ich, aber zäh wie der Teufel, sehnig und braungebrannt, als wäre er aus Walnussholz und Rohleder gemacht. Er betete noch mehr als Shamsudin.
    Einmal erlegten die Wachen einige Wildschweine und warfen uns die Reste hin – nicht aus Barmherzigkeit, sondern weil sie sehen wollten, wie wir uns darum schlugen –, und ein großes Stück landete direkt vor Zulfugars Füßen. Er rührte sich nicht einmal. Ich dagegen war nicht zu stolz, mich für mein Essen zu bücken, also schnappte ich mir das Fleisch
und schlang es hinunter. Es war halb verbrannt und halb roh, aber mir läuft noch immer das Wasser im Mund zusammen, wenn ich daran denke. Ich bot Zulfugar etwas davon an, doch er wollte es nicht – er sagte, seine Religion würde es ihm verbieten.
    Zulfugar war Soldat gewesen, und er war sehr eigen, was den Zustand seiner Füße betraf. Jeden Abend wusch er seine Fußlappen und hängte sie zum Trocknen auf. Einige der anderen Gefangenen machten sich darüber lustig, verspotteten ihn als Weichei, aber ich erkannte bald die Klugheit in seinem Verhalten. Einer der Männer, die am meisten über ihn gelacht hatten, bekam einen Abszess am Fuß, und seine Zehen wurden ganz schwarz. Er humpelte so stark, dass die Wachen seine Ketten lösten, um ihm überhaupt noch eine Chance zum Mithalten zu geben, aber er fiel immer weiter zurück, und irgendwann erschien er nicht mehr zum Abendappell. Danach begannen etliche von uns, sich besser um ihre Füße zu kümmern.
     
    Ein andermal kamen wir an einer an einem Fluss gelegenen Stadt vorbei. Der Fluss musste einige Jahre zuvor über die Ufer getreten sein – man konnte die Hochwasserspuren an den Gebäuden erkennen, noch immer lag Schlick auf der Straße, und wir stießen auf ein schlammverkrustetes Auto, das aussah, als hätte es ein Wal verschluckt und wieder ausgespieen.
Und dennoch schien es seinem Schicksal zu trotzen, wirkte es gedrungen und kraftstrotzend. Es erinnerte mich an einen stämmigen Mann mit hängenden Schultern. Das Gummi der Reifen war zerrissen und stand weit auseinander.
    Auf merkwürdige Weise fühlte sich Zulfugar zu dem Wagen hingezogen. Mit seiner schmutzigen Hand strich er über die Heckscheibe und murmelte dabei Shamsudin etwas auf Russisch zu. Die beiden lachten.
    »Er sagt, als Kind hat er davon geträumt, so einen Wagen zu besitzen«, sagte Shamsudin.
    Zulfugar rüttelte an einer der Türen, aber sie ließ sich nicht öffnen, und die Flüche, mit denen er das Schloss bedachte, waren so laut, dass ich befürchtete, die Wachen würden ihn erschießen. Ich griff nach seinem Ellbogen, und sein Arm wurde schlaff in meiner Hand, so wie bei jemandem, den man von einem Kampf abhält, auf den er ohnehin keine rechte Lust hat, und er ging mit mir mit, doch nicht, ohne immer wieder über die Schulter zu blicken und zu sehen, wie das Auto im Staub verschwand. Und als wir später anhielten, um am Fluss unsere Wasserkanister aufzufüllen, hatte er immer noch nur

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