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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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meine Nase.«
    »Woran dachtest du dann?«
    »Du bist sehr höflich.«
    Er studierte mich sorgfältig, als hätte er zum ersten
Mal etwas Ungewöhnliches an mir bemerkt. »Eine Säureverätzung?«
    »Nah dran. Es war Lauge.«
    »Das ist leicht zu behandeln. Wir verwenden Chemikalien, um die Epidermis wieder herzustellen. Und für die Rekonstruktion des Lids würde ich Haut von deiner Hüfte nehmen. Ich könnte dich sogar noch schöner machen.«
    Da hätte ich beinahe gelacht. Man konnte sich gut vorstellen, wie er reich geworden war – indem er wohlhabende Frauen um den Finger gewickelt und dann um ihr Geld erleichtert hatte. Er hatte gleich gesehen, dass ich eine Frau war – und das gab mir ein seltsam angenehmes Gefühl.
    Tatsächlich hatte Shamsudin etwas von einem Gentleman. Er bemühte sich, die zerrissene Kleidung halbwegs ordentlich zu tragen, und wenn er aß, schlang er sein Essen nicht hektisch herunter wie wir anderen, sondern brach mit seinen langen Fingern kleine Häppchen ab, rollte sie zu Bällen und verspeiste dann in aller Ruhe einen nach dem anderen. Ich begann es genauso zu machen – zumindest dauerte das Essen so länger, und es wirkte, als gäbe es mehr davon.
    Das wenige, was ich Shamsudin von meinem Leben erzählte, kam ihm völlig verrückt vor. Er konnte einfach nicht glauben, dass meine Eltern ihr
angenehmes Leben freiwillig gegen die Kälte des Nordens eingetauscht hatten. Von seiner eigenen Familie war niemand mehr am Leben. Er hatte Buchara mit zwei Begleitern verlassen, sie wollten sich zur Küste durchschlagen und dort ein Schiff auftreiben, das sie nach Japan oder vielleicht sogar nach Alaska bringen würde. Sie begegneten auf ihrer Reise nur sehr wenigen Menschen – und noch weniger, die ihnen halfen. Einer seiner Gefährten starb an der Ruhr, der andere wurde erschossen, als sie in einen Bauernhof einbrachen, um Essen zu stehlen. Alleine und halbverhungert kam Shamsudin an seinem Ziel an, aber da waren die Geldscheine in seinen Taschen bereits wertloses Papier.
    Er sagte, ab und an gebe es noch Schiffe an der Pazifikküste, doch der einzige wirkliche Handel war der mit Männern und Frauen. Etwa zwei Drittel unserer Mitgefangenen waren als Fracht aus Petropawlowsk in Kamtschatka gekommen – Shamsudin hatte am Hafen zugesehen, wie man sie ausgeladen hatte. So bestürzt er anfangs darüber war, stellte er doch schnell fest, dass die Sklaven weitaus besser genährt waren als er. Bei Einbruch der Nacht konnte er riechen, wie sie im Lager ihr Essen kochten, und seine Eingeweide schmerzten vor Hunger. Also lieferte er sich einfach den Wachen aus. Und als er dann im Lager die erste Schüssel Essen erhielt, weinte er vor
Scham über das, was er getan hatte, und dankte Gott, dass seine Eltern nicht mehr am Leben waren und seine Schwäche mit ansehen mussten.
    Ich sagte, er solle nicht so hart zu sich selbst sein. Schließlich war er nicht der Einzige – auf zwei Männer in der Karawane, die gekauft worden waren, kam einer, der sich freiwillig in Gefangenschaft begeben hatte, weil er das Leben dort draußen nicht mehr ertragen hatte.
    Mit Ausnahme Shamsudins hatten es diese Freiwilligen in der Regel ziemlich schwer, denn es gab wahre Bestien unter uns. Eines Nachts erschlug ein Kerl namens Hansom einen Mann mit einem Stein und erwürgte einen anderen in der nächsten. Beide Männer hatten gehofft, es würde ihnen in Gefangenschaft besser ergehen. Die Wachen zogen den Toten die Kleider aus und ließen sie am Straßenrand liegen. Hansom wurde nicht bestraft, man sonderte ihn lediglich von den anderen ab, damit es nicht noch mehr Verluste gab.
     
    Wir zogen den Kommissaren-Highway hinunter – jenen Weg zurück, den ich im Herbst hinaufgeritten war. Ohne den Schnee wirkte alles ganz anders, nur selten sah ich Stellen, an die ich mich von meiner Reise nach Norden zu erinnern glaubte. Nach vier Wochen etwa kamen wir an einem Vormittag an
Evangeline vorbei. Schon einige Tage zuvor war mir bewusst geworden, dass wir uns der Stadt näherten, und mit jedem Schritt schienen die Ketten etwas leichter an mir zu hängen. Allein die Nähe meines Zuhauses hatte etwas Tröstliches, und ich hoffte inständig, wir würden die Nacht dort verbringen. Wie das Kaninchen in diesem Kinderbuch glaubte ich, dass meine Chancen, zu entkommen, an einem vertrauten Ort größer sein würden. Dass ich ihnen so wie Ping entwischen könnte, einfach in den Abflüssen verschwinden, bis die Wachen ungeduldig wurden und

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