Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
Vom Netzwerk:
Reihen Stockbetten standen.
    Und für die nächsten Jahre war dies mein Zuhause.

2
    DIE GESICHTER DER TUNGUSEN, die früher zum Handeln oder auf der Suche nach Arbeit in unsere Stadt gekommen waren, hatten häufig einen Ausdruck bäuerlichen Staunens und Unglaubens gezeigt. Zwar hatten viele von ihnen, besonders die Älteren, schon bessere Städte als die unsere gesehen, aber manche der Jüngeren waren nie gereist und hatten uns nur vom Hörensagen gekannt.
    Stellt euch das vor: Ein Kind der Tundra, das alles über den Zug der Karibus wusste, das siebenundneunzig Sachen kannte, die man aus Weidenholz und Sehnen machen konnte, das ewig von den kargen Böden des Nordens leben konnte – und nun geht es eine Betonstraße entlang und starrt ein Kind mit einem Luftballon an oder eine Frau mit einem Einkaufskorb oder die großen Glasscheiben der Bäckerei, verwirrt von all diesen unterschiedlichen Dingen, angerempelt von Passanten, verspottet von irgendwelchen frechen Gören.
    Dieser arme verwirrte Tunguse war ich in meinen
ersten Tagen im »Stützpunkt«. Dieser Ort hatte eine Vitalität, wie ich sie außer in der Stadt meiner Kindheit nie erlebt hatte, und ich war so erschöpft, dass ich all die Eindrücke kaum aufnehmen konnte: den Geruch schmutziger Männer und Tiere, die lauten Stimmen, die vielen verschiedenen Gesichter von braun bis gelb, die Enge in den Baracken, das Gedränge zu den Essenszeiten, dichter als ein Schwarm Lachse.
    Es dauerte Tage, ja Wochen, bevor dieses neue Leben in meinem armen überlasteten Kopf Gestalt anzunehmen begann, und bis dahin hielt ich einfach den Ball flach, tat, was die anderen taten, versuchte, mich aus jeglichem Ärger rauszuhalten.
    Wir waren in zwei Baracken untergebracht – etwa dreihundert Seelen. Die Baracken waren für viel weniger gebaut worden, aber das schien hier niemanden zu kümmern. Die Alteingesessenen hatten die normalen Betten in Beschlag genommen, während die Neuankömmlinge sich mit übereinander an der Wand angebrachten Brettern begnügen mussten. Beinahe drei Jahre waren diese Holzbohlen über meinem Kopf alles, was ich an Privatsphäre hatte. Ich zitterte unter ihnen im Winter und schwitzte in der Hitze des Sommers oder wenn mich ein Fieber gepackt hatte. Noch jetzt könnte ich jedes Muster in diesen Brettern aus dem Gedächtnis zeichnen – ich kenne sie besser als das Gesicht meiner Mutter.

    Praktisch alle Gefangenen wurden für landwirtschaftliche Tätigkeiten eingesetzt: vom Pferde beschlagen zum Kühe melken, vom Futter säen und ernten zum Kohl einsalzen und Gras für den Winter silieren. Jeden Morgen und jeden Abend mussten wir zum Appell antreten.
    Diesen ersten Sommer bündelte ich tagsüber Heu in der heißen Sonne, und abends molk ich die Kühe im Stall. Seit Jahren hatte ich nichts dieser Größe gesehen – es waren bestimmt mehrere tausend Morgen bestelltes Land. Und es war diese reiche, schwarze Erde, über die die Russen immer Witze machten: Wenn du einen Löffel im Boden vergisst, sagten sie, wächst eine Schaufel daraus. Ich glaube, sie nannten sie chernozem , Schwarzerde.
    Eine Gruppe musste in den Küchen arbeiten, und dorthin wollte jeder. Es wurde als die angenehmste Arbeit gesehen: jede Menge zu essen, den ganzen Tag drinnen. Doch dafür nahm man die ältesten Gefangenen. Mir machte es allerdings nichts aus, draußen zu arbeiten. Wir hatten auch genug Essen, und ich muss sagen: Die Gefängnisbäckerei machte die weichsten Brote, die ich je gegessen habe.
    In den ersten Wochen hatten alle neuen Gefangenen immer leichte Schwindelgefühle, was vom regelmäßigen Essen und den langen Tagen in der Sonne kam – und von der Erleichterung, dass sie ihr Ziel
erreicht und sich ihre schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheitet hatten.
    Der Abendappell war nie später als um fünf.
    »Mein Bauch tut weh!«, rief einer der Gefangenen einmal erstaunt, während er seinen Teller mit einer dicken Scheibe Schwarzbrot säuberte.
    In den Baracken wurde fröhlich geschnarcht, und als es dann auch noch Eier zum Frühstück gab, dachten diese Narren, sie seien gestorben und im Himmel gelandet. Und sie dachten: Wenn es uns schon so gutgeht, wie muss es dann erst bei unseren Wächtern sein, bei Boathwaite und seinen Männern?
     
    Nachts ging es in den Baracken zu wie in einer geschäftigen Kleinstadt. Die meisten von uns hatten mindestens ein Handwerk gelernt und erledigten mehr oder weniger heimlich kleinere Arbeiten für die Wachen: Schneider- oder

Weitere Kostenlose Bücher