Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
Tischlerarbeiten. Einer baute aus Holzresten und Draht Banjos und verkaufte sie. Ein anderer, der für sein plov bekannt war, musste es immer wieder für die Wachen kochen, wenn eine von ihnen Geburtstag hatte, und stets kam er betrunken von den Feiern zurück. Üblicherweise wurden sie mit Alkohol, Tabak oder Essen bezahlt.
Es gab einige Gerüchte über Frauen im Lager, aber ich war die einzige unter den Gefangenen, von der
ich wusste, und tatsächlich bekam ich auch zwei Jahre lang keine andere zu Gesicht.
In diesen zwei Jahren war ich kaum eine Sekunde allein. Selbst die Latrinen boten keine Rückzugsmöglichkeit, ständig waren dort andere Gefangene. Und zugleich war da nichts, was ich Kameradschaft nennen würde.
Ich hatte sehr gehofft, mich weiter gut mit Shamsudin zu verstehen – ich mochte ihn, er schien ein anständiger Mann zu sein –, doch meine Freundschaft mit ihm und Zulfugar überstand das Frühjahr nicht.
Hin und wieder mussten wir gemeinsam eine Arbeit verrichten, und ich spürte einen Hauch der alten Herzlichkeit, aber die meiste Zeit kümmerten sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Es gab etliche Moslems unter den Gefangenen, und sie beteten und aßen zusammen, und im Herbst fasteten sie vierzig Tage lang gemeinsam. Als Frau war es mir unmöglich, ihnen näherzukommen – und unter den übrigen Gefangenen gab es niemand, mit dem ich befreundet sein wollte.
Letztlich war das Leben im Lager jedoch alles andere als ein Zuckerschlecken. Es gab jede Menge Schlägereien und Tote und Saufgelage und übles Gerede. Und trotzdem hatten wir nie einen, der sich
selbst das Leben nahm, und was mich betraf – so kurz ich davor gewesen war, mir mein Leben zu nehmen, so wenig kam es mir hier in den Sinn, es selbst zu beenden.
Als Ping und ihr Mädchen starben, war es, als wäre die Luft aus meinem Leben entwichen. Für jemanden wie mich, der schon beim Aufstehen nichts gegen einen guten Kampf einzuwenden hat, war das eine seltsame Erfahrung. Es schien keinen sinnvollen Unterschied mehr zwischen einer Sache und einer anderen zu geben. Bei keiner Sache. Als ich in den See sprang, war ich in gewisser Weise bereits tot und wollte einfach nur zu atmen aufhören.
Natürlich: Wenn ich mich, auf meinem stinkenden Schlafplatz liegend, zwischen all den übereinandergestapelten Körpern im Lager, an mein Leben in der Hütte erinnerte, schien es die schönste Zeit überhaupt gewesen zu sein – die Weite, das Wasser und nur ich, dem ich es recht machen musste. Und doch hatte ich dort sterben wollen. Hier hingegen wachte ich jeden Morgen auf und freute mich, am Leben zu sein.
Ja, ich brannte geradezu nach Leben. Ich aß so gut wie nur möglich. Hielt mich bei Kräften. Legte warme Sachen für den Winter zurück. Und wenn ich grub oder Heu bündelte oder Kartoffelsäcke schleppte, tat ich das mit der Hingabe einer Betenden, und
mein Gebet lautete: Halte meinen Körper jung. Lass mich diesen Ort überstehen. Lass mich nicht hier im Gestank dieser Männer sterben …
Häufig dachte ich an Flucht. Es gab Gelegenheiten. Aber das beste Mittel der Wachen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, waren die Gefangenen selbst. Wir waren so eng zusammengepfercht, dass wir nie auch nur an das Minimum der Dinge gekommen wären, die man zum Überleben außerhalb des Lagers gebraucht hätte, ohne dass einen jemand verraten hätte. Es gab eine ganze Reihe Spitzel unter den Gefangenen, die sich den Wachen lieb Kind machen wollten. Sie wurden für ihr Getratsche bezahlt, aber die meisten von ihnen hätten es auch umsonst gemacht.
Eine Besonderheit unseres Gefängnisses war es, dass immer mal wieder jemand, den man aus der Baracke oder von der gemeinsamen Arbeit her kannte, für ein, zwei Wochen verschwand – und plötzlich wieder auftauchte, mit einem Gewehr, auf einem Pferd, zur Wache befördert.
Das war eine ziemlich geschickte Strategie von Boathwaite. Menschen brauchen Hoffnung. Etwas, von dem sie träumen können. Und für die Gefangenen war das besser als der Himmel: Sie kamen wieder, in dieses Leben, aber mit allen Rechten und Vorteilen einer Wache. Das war der Hauptgrund, warum es so viele eifrige Spitzel gab.
Also hatte Boathwaite immer Männer, die die Stimmung im Lager so gut kannten, dass sie jeden Störenfried aufspüren und sich um ihn »kümmern« konnten, bevor er dazu kam, sich mit anderen zu organisieren. Was den Auswahlprozess betraf, so schien er keiner ersichtlichen Logik zu folgen. Die Gefangenen, denen
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