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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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Menschenseele ließ sich auf der Straße blicken, nur ab und an sah man Orte, die bewohnt wirkten – da gab es etwa ein paar Hühner oder Bohnenstauden in den Gärten. Die Wachen sammelten dann alles Essbare ein, und wir zogen weiter, und ich fragte mich, wessen Essen sie da an sich genommen hatten. Wer immer es war, er hatte gelernt, sich zu verstecken, sobald er unseren Staub auf der Straße sah.
    Anfang Juni dann hatte sich unter den Gefangenen eine gewisse Behäbigkeit breitgemacht, von der uns kein Drohen und kein Schlagen befreien konnte. Wir spürten in unseren Knochen, dass sich das Ziel der Reise näherte, und die Angst vor dem, was vor uns lag, ließ uns die Füße nachziehen.
     
    Üblicherweise hielten wir immer am Ende des Tages an und schlugen unser Lager auf. Auch wenn man es
der Straße nicht ansah, weil sie so gerade wirkte, hatte sie doch stets einen leichten Bogen nach Süden beschrieben. Und am Straßenrand waren neue Arten von Bäumen aufgetaucht: Walnussbäume, Birken, Ulmen, Weiden, Linden. Noch nie in meinem Leben war ich so weit südlich gewesen, und ein Teil von mir vermisste den arktischen Sommer. Weit im Norden gab es nun gar keine Nacht mehr, was mir immer einen willkommenen Energieschub verliehen hatte. Dort aber, wo wir gelandet waren, breitete sich um neun Dunkelheit aus.
    Unsere Anspannung war mit jedem Tag gewachsen. Während Abzweigungen von der Straße zuvor äußerst selten gewesen waren, kamen wir jetzt an immer mehr vorbei. Und da waren auch plötzlich Wegweiser, schwarz und verbogen und in einer für mich unleserlichen Schrift, aber doch wie Mahnmale der Vergangenheit.
    Ich musste an all die Menschen denken, die diese Schilder gesehen hatten, als sie voller Hoffnung aus dem Westen hierhergekommen waren, um in diesen Städten zu leben. Ein spätes Kapitel in der Geschichte der Menschheit – wie spät, konnten sie nicht geahnt haben.
    Und ich musste an Ping denken. Wie gut, dass ihr dies alles erspart geblieben war. Manchmal sah ich mir die Wachen an und fragte mich, ob einer von
ihnen wohl der Vater ihres Kindes war. Boathwaite selbst schien mir ein zu kalter Fisch für so etwas, aber dieser Reiter mit dem Tatarenblick, war er es? Oder der Ältere in der geflickten Jacke, der immer mit seinem Messer aß und mit jeder Bewegung seine Verachtung für uns ausdrückte? Oder der Junge mit dem netten Gesicht, der Jüngste von ihnen, der nach den Mahlzeiten ihre Teller einsammelte und ihnen Feuer für ihre Zigaretten gab?
    Am Abend hörten wir sie reden und lachen, aber sie waren zu weit weg, als dass wir verstanden hätten, was sie sagten. Sie alle mussten Geschichten wie ich oder Shamsudin haben. Boathwaite war ein Siedlerkind, genau wie ich. Einer seiner Männer war Halbtunguse, und es gab jede Menge Russen und ein paar Burschen, die aussahen wie aus dem Kaukasus, mit rötlichem Haar und zusammengewachsenen Augenbrauen, Goldzähnen und großen Ohren.
    War es womöglich reiner Zufall, dass wir hier in Ketten lagen und sie auf den Pferden saßen? Hatten sie sich einfach ihr natürliches Mitgefühl abgewöhnen müssen, so wie Shamsudin seine Zimperlichkeit hatte überwinden müssen, damit er einer Frau das Gesicht aufschneiden konnte, um sie schöner zu machen? Aber all diese Fragen bewirkten nicht, dass ich sie weniger hasste.
    Dann eines Abends, anstatt anzuhalten, das Nachtlager
aufzuschlagen und zwei von uns zum Holzsammeln abzukommandieren, gingen wir einfach weiter.
    Abends waren die Moskitos immer wie ein Höllenfeuer, wenn man sie sich nicht mit Rauch vom Leibe hielt. »Verdammt!«, rief ich, während ich nach ihnen schlug. »Sie essen besser als wir.«
    »Ja«, sagte Shamsudin. »Das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Moskito beneide.«
    Es war nur Halbmond, aber die Nacht war so klar, dass man auch den unbeleuchteten Teil von ihm sah. Wir kamen an eine Gabelung, und die Wachen trieben uns nach links. Der Weg fiel erst leicht ab, dann beschrieb er einen Bogen hoch zu einem Tor, das von zahllosen Öllampen beleuchtet wurde. Es war ein richtiges Tor, nicht wie diese plumpe Tischlerarbeit in Horeb, sondern eine riesige zweiflügelige Konstruktion, in Betonpfosten eingehängt und mit einem Maschendrahtzaun, der sich zu beiden Seiten in die Dunkelheit erstreckte.
    Ohne ein Wort von Boathwaite oder den anderen Wachen öffnete sich das Tor, und wir schritten in Zweiergruppen hindurch, gingen über ein weites Kiesfeld und betraten eine lange, niedrige Baracke, in der drei

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