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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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zum Spekulieren, und er teilte die Leidenschaft vieler Gefangener, über die Katastrophen zu reden, die uns heimgesucht hatten, und warum sie sich ereignet hatten.
    Ich war der Meinung, dass nichts unsere Ahnungslosigkeit deutlicher unter Beweis stellte als das Gerede der Gefangenen über diese Dinge. Man bekam so viele Erklärungen, wie man Leute fragte, und die meisten erzählten Märchengeschichten, bei denen
sich selbst Kinder geschämt hätten: Ein Stück vom Mond war ins Meer gefallen und hatte eine Flutwelle verursacht … Winzige Maschinen hatten das Sonnenlicht aufgefressen … Und dergleichen.
    Natürlich wusste ich, was ich gesehen hatte – verzweifelte Menschen, die über unsere kleine Stadt hergefallen waren –, und ich konnte erraten, vor was sie geflohen waren – Missernten, Städte ohne Wasser, marodierende Banden –, doch was hinter diesen Plagen lag, wusste ich nicht.
    Während sich Shamsudin also mit einer Hand an den Schindeln festhielt und versuchte, nicht hinabzusehen, und mir mit der anderen die Nägel reichte, erklärte er mir seine Sicht der Dinge.
    Er sagte, die Erde sei fast fünf Milliarden Jahre alt, und schilderte, wie sie vom Weltraum aus aussah, von einem Wolkenschleier umgeben, und wie sie im Laufe der Jahrmillionen erst blau, dann weiß, dann wieder blau geworden war. Es hatte lange Sommer gegeben, in denen es in den Ozeanen vor Leben nur so gewimmelt hatte, und Winter, in denen selbst das Meerwasser gefroren war. Fünf Mal in dieser Zeit, immer wenn es zu dunkel oder zu heiß geworden war, war alles Leben von der Erdoberfläche gefegt worden. Und das eine Mal – ein großer Mond war aus dem All auf Mexiko gekracht – hatte es die Dinosaurier erledigt.

    Für mich klang das wie ein weiteres Märchen, und ich fragte ihn, ob das alles in seinem Heiligen Buch geschrieben stünde, aber er schüttelte den Kopf und sagte, das sei »wissenschaftlich erwiesen«.
    Fünf Mal also – und nun waren wir an der Reihe. Wir waren aus dem Schlamm gekrochen, hatten den Planeten bevölkert, hatten jede Ecke besiedelt, egal ob Eis oder Wüste, und waren dabei immer schlauer und einfallsreicher geworden. Und dann hatten wir begonnen, die Erde umzugestalten. Vom Weltraum aus konnte man sehen, wie Raketen und Satelliten aus dieser kleinen Kugel herausschossen wie Popcorn. Seit wir die Landwirtschaft erfunden hatten, befand sich die Erde in einer ihrer Warmzeiten – wir waren also an vorhersagbare Jahreszeiten und ein passendes Anbauklima gewöhnt. Nun aber gab es so viele von uns, und wir wollten so viel, und wir alle waren mit den Erfindungen voriger Jahrhunderte bewaffnet. Einst waren wir lediglich ein Haufen nackter Affen gewesen, die im Hinterland eines afrikanischen Ozeans nach Essbarem gesucht hatten – jetzt waren wir eine gewaltige Armee, ein Termitenhügel voller Riesen, die den Planeten zum Erzittern bringen konnten, wenn wir gemeinsam aufstampften, und die die Luft allein durch ihren Atem wärmten.
    Shamsudin sagte, der Planet hätte sich aufgeheizt.
Also schaltete man die Schornsteine ab, schloss die Fabriken und hörte zu fliegen auf, und einige, wie meine Eltern, änderten ihre Lebensweise radikal.
    »Du hast mich nach dem Koran gefragt«, sagte Shamsudin. »Ich sehe es aber wie ein Arzt. Trotz all unseres Wissens geschehen Dinge, die wir nicht verstehen. Manchmal stirbt der Patient nicht an seiner Krankheit, sondern an der Medizin.«
    Es stellte sich nämlich heraus, dass der Rauch der ganzen Feuerstätten wie ein Schirm gewirkt und die Welt einige Grade kühler gehalten hatte, als sie sonst gewesen wäre. In dem verzweifelten Versuch, das Richtige zu tun, hatten wir den Ast abgesägt, auf dem wir saßen. Die Dürren und Stürme der folgenden Jahre führten zu allem Weiteren.
    Das Leben in Städten war Geschichte.
    Ich fragte Shamsudin nach der Welt jenseits des Nordens und dachte dabei an das Flugzeug, doch er zuckte nur mit den Achseln. »Der ganze Planet ist ein karger und uninteressanter Ort geworden«, sagte er. »Menschliches Elend kennt nur wenige Spielarten: Zeltstädte, Zwangsarbeit, Hunger, Brutalität, Männer, die sich Essen und Sex mit Gewalt nehmen. Du hast das alles selbst gesehen.«
    Als er zu Ende geredet hatte, war ich mit dem Dach fertig, aber wir blieben beide noch ein bisschen und verschnauften in der Sonne. Offenbar war
Shamsudins Höhenangst vorüber. Wir waren noch immer dort oben, als die Wachen kamen und uns zum Abendappell trieben.
     
    Anfänglich ging

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