Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
Vom Netzwerk:
man eine Chance gab, fielen in keinerlei Weise auf. Jedoch wurde nie jemand zur Wache, der sich zu sehr fürs Beten begeisterte – und davon gab es einige –, und sie nahmen auch nie einen Moslem.
    Ich würde aber lügen, wenn ich sagte, dass ich im Lager nur unglücklich gewesen wäre. Schließlich konnte ich mich an etwas festhalten. Ich hatte noch etwas zu erledigen dort draußen – ich hatte mir dieses Flugzeug nicht nur eingebildet.
    Und auch davon abgesehen war es möglich, ein wenig Freude in jedem Tag zu entdecken. Ich hatte Feldarbeit immer gemocht, die Farben, die Gerüche, das Wunder, wenn etwas aus dem Boden sprießt. Wir Menschen sterben für immer, aber eine Pflanze stirbt zurück zu ihrer Wurzel. Auch das war eine Art Trost für mich: Wenn die Zeiten hart sind, begünstigt die Natur das Kleine, Einfache.
    Ich war von der Kraft dieser Erde überwältigt. Wir bauten so viel an, dass wir im Herbst gar nicht alles ernten konnten. Einige Felder überließen wir einfach sich selbst, andere pflügten wir unter. Im August und
September kamen uns die Tomaten, die Kürbisse, der Mais, die Milch und die Butter zu den Ohren heraus. Und das mit Sklavenarbeit – man stelle sich vor, was freie Menschen aus diesem Ort gemacht hätten.
    Etwas Derartiges kam natürlich keinem der Gefangenen über die Lippen. Wir hatten ungeschriebene Regeln, strenger als die zehn Gebote. Nur der unbedarfteste Neuling ließ erkennen, dass er von all dem Essen beeindruckt war. Alle anderen nörgelten und beschwerten sich und schlugen wild um sich, wenn ihnen jemand zu sehr auf die Pelle rückte – und auch, wenn nicht, solange man sich bei den Wachen nur in ein gutes Licht rücken konnte –, und zeigten niemals Überraschung oder Zweifel und waren niemals neugierig.
     
    Es gab einen Stall, in dem die Wachen ihre Schweine züchteten, und einmal wurden Shamsudin und ich dort hingeschickt, um Teile des Dachs mit Schindeln zu bedecken. Es war Hochsommer und furchtbar heiß dort auf dem Dach, aber als relativ neue Gefangene gab man uns die anstrengendsten Arbeiten. Außerdem hielten es die Wachen offenbar für witzig, eine Frau und einen Moslem auf dem Dach eines Schweinestalls schuften zu lassen.
    Wir begannen also mit der Arbeit, und nach etwa fünfzehn Minuten machten sich die Kerle, die uns
eigentlich bewachen sollten, aus dem Staub und ließen uns allein. Die Sonne brannte vom Himmel, und der Geruch nach Teer und Schindeln trug mich weg von diesem Ort, ließ mich an zu Hause denken.
    Shamsudin war etwas abseits zu meiner Linken zugange. Nach einer Weile blickte ich zu ihm hinüber. Er sah nicht auf, sondern saß weiter zusammengekauert auf der Dachschräge. Ich fragte mich, weshalb er so still war, und aus irgendeinem Grund kam mir in den Sinn, dass er sich schuldig fühlte, weil er mir nach unserer Ankunft im Lager als Freund den Rücken zugewandt hatte. Dann bemerkte ich, wie langsam er sich bewegte. Vorsichtig näherte ich mich ihm und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sein Gesicht war grau, und der Hammer in seiner Hand zitterte.
    Er stand kurz davor, umzukippen, offenbar machte ihm die Höhe zu schaffen. Das Dach war etwa sieben Meter hoch. Ich traute mir nicht zu, ihn allein festzuhalten, sollte er wirklich fallen, also wandte ich mich um und rief nach den Wachen. Shamsudin aber legte mir die Hand auf den Arm, und sein Blick bat mich, still zu sein.
    Auch auf Bodenhöhe hätte er sich mit der Arbeit sehr schwergetan. Etwas von meinem Vater steckte in Shamsudin – er gehörte nicht in die raue Welt des Nordens, seine Hände ähnelten mehr denen einer Frau als meine.

    In einer anständigen Welt braucht man sich für seine Schwäche nicht zu schämen, doch das Leben im Lager hatte nichts Anständiges. Die Arbeit nicht ordentlich zu verrichten, bedeutete hier mindestens eine Woche Einzelhaft. Und im schlimmsten Fall würde es Shamsudins Reputation genau die Art von Schaden zufügen, die andere dazu ermutigte, ihn fertigzumachen. So lief das hier.
    Ich half ihm, damit er sich am Dachfirst festhalten konnte, und reichte ihm dann die Nägel. Doch er wirkte weiter steif und unsicher und bemühte sich, nicht nach unten zu sehen. Um ihn abzulenken, schlug ich vor, dass wir uns unterhalten sollten.
    »Worüber sollen wir uns denn unterhalten?«, fragte er.
    »Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Sag mir, wie wir in dieses Schlamassel geraten sind.« Ich meinte eigentlich, wie wir auf dieses Dach geraten waren, aber Shamsudin neigte stets

Weitere Kostenlose Bücher