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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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gedrängten Baracke hören zu müssen, aber ich fand dieselbe Befriedigung darin, wie ich sie früher beim nächtlichen Jagen empfunden hatte oder wenn ich in der Werkstatt ein neues Gewehr gebastelt hatte, all meine Aufmerksamkeit auf eine einzige Sache gerichtet.
Und mehr als einmal bereute ich in diesen schlaflosen Nächten, dass ich damals keine Klinge zur Hand gehabt hatte, als Eben Callard und seine Freunde über mich hergefallen waren.
     
    Sie warteten eine Woche, bevor sie mich zu überrumpeln versuchten, und als sie schließlich kamen, war ich bereit.
    Ich hörte ihre Füße über den Boden huschen, als sie aus ihren Betten schlüpften und zu mir herüberkamen. Natürlich hatten auch sie Klingen, aber ich war nüchterner und schneller und wütender und erwischte einen von ihnen am Hals und einen anderen am Rücken und dann am Hintern, als er kreischend davonrannte. Und als dann die Wachen mit ihren Laternen hereingerannt kamen, stellte sich heraus, dass er sich in seiner Panik auch noch tief in den eigenen Finger geschnitten hatte.
    Die Wachen brachten mich in eine Zelle, und auf dem Weg dorthin verfluchte ich die ganze Bande und rief, dass jeder, der so etwas mit mir probierte, dieselbe Behandlung erwarten konnte. Die beiden Männer hatten überlebt, was ein Jammer war, aber zumindest der Finger war nicht mehr zu retten.
     
    Ich musste ein paar Tage in der Zelle verbringen, doch das war keine große Unannehmlichkeit. Im
Gegenteil war ich ziemlich zufrieden mit dem Verlauf der Dinge und ging davon aus, dass man von nun an den nötigen Abstand zu mir halten würde. Außerdem wusste ich, dass die Wachen mich nicht töten würden, besaßen wir doch für sie einen nicht zu geringen Wert – warum uns sonst den ganzen Weg hierherbringen und uns Essen und ein Dach über dem Kopf geben? Und ich freute mich auf die Feldarbeit, wenn sie mich wieder rausließen.
    Ein, zwei Wochen später – ich bündelte gerade Heu – machte Caleb Boathwaite seine Runde auf den Feldern und hielt neben dem Wagen, auf dem ich stand.
    »Ich habe gehört, es gab da ein kleines Missverständnis mit Stavitsky und Maclennan«, sagte er.
    Ich zuckte nur mit den Schultern.
    »Offenbar hat Maclennan seinen Finger verloren.«
    Ich zuckte wieder mit den Schultern und versuchte erst gar nicht, so zu tun, als ob mir das leid täte.
    Boathwaite auch nicht.
     
    Weil ich meine Mitgefangenen nicht ausstehen konnte und Shamsudin es nicht wagte, seine Stellung in der muslimischen Gemeinschaft durch unsere Freundschaft zu gefährden, kamen die allerneuesten Gerüchte immer etwas später bei mir an als bei den anderen. Was mir nichts ausmachte, da das meiste davon ohnehin
Unsinn war und ich genug mitbekam, wenn ich vor dem Schlafengehen den Gesprächen in der Baracke lauschte. So wurde mir zwar schon recht früh klar, dass Boathwaite diesem ganzen Aufwand mit dem Arbeitslager äußerst skeptisch gegenüberstand, aber es brauchte ein wenig, bis ich den wahren Grund für unsere Gefangenschaft erkannte.
     
    Etwa acht Monate nach unserer Ankunft, irgendwann im Februar, ertönte in aller Frühe das Wecksignal, und sie ließen uns noch vor dem Frühstück auf dem Appellplatz antreten.
    Es war noch halb dunkel, und in der frostigen Stille konnte man unseren Atem sehen und das gedämpfte Stampfen unserer Füße hören, mit dem wir uns aufzuwärmen versuchten.
    Neben den üblichen Wachen waren diesmal noch einige mehr da, manche von ihnen ganz neu dabei, alle für eine Winterreise ausgerüstet. Jede Wache ging die Reihen ab und wählte jeweils zwei Gefangene aus. Ihr Anführer war ein Kerl namens Tolya, ein Halbrusse, Boathwaites rechte Hand im Lager, und während er langsam die Gefangenen abschritt, nahmen diese Haltung an und neigten sich leicht vor, als hofften sie, ausgewählt zu werden.
    Schließlich blieb Tolya vor mir stehen, und ich hörte die Männer rechts und links von mir flüstern:
»Mich, Tolya, mich.« Tolya sah sie sich beide an, dann lächelte er und nickte einem von ihnen zu. Der Bursche war sichtlich erfreut, dass man ihn genommen hatte. Er grinste uns zu, während er sich entfernte.
    So ging es weiter – bis zwanzig Gefangene ausgewählt waren und davonmarschierten.
    Auf dem Weg zurück in die Baracke fragte ich den Mann, der neben mir gestanden hatte, was es mit all dem auf sich hatte.
    Er sah mich verblüfft an. »Na, diese Glücklichen gehen jetzt in die Zone.«
    Das war das erste Mal, dass ich dieses Wort hörte. Fakten waren wie

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