Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
also richtete man es so ein, dass es einfach wie ein Ausläufer von Polyn aussah. Diese neue, »geheime« Stadt hatte nie einen eigenen Namen, und die ersten zehn, zwanzig Jahre gab die Regierung nicht einmal zu, dass sie existierte. In den Akten war sie als Polyn 66 verzeichnet – nach dem Breitengrad, auf dem sie lag.
Die Regierung schickte die begabtesten Fachleute der damaligen Zeit nach Polyn 66 – Ärzte, Professoren, Wissenschaftler – und ließ sie in den dortigen Fabriken und Schulen arbeiten. Man brauchte einen speziellen Ausweis, um Polyn 66 zu betreten, den gewöhnlichen Bürgern Polyns war es verboten, dorthin zu gehen, und wer dort ohne die richtigen Papiere angetroffen wurde, wurde schwer bestraft.
Abgesehen davon, dass es in der Stadt viel kälter war, als es die meisten der zugezogenen Wissenschaftler gewohnt waren, bot das Leben dort doch etliche
Annehmlichkeiten: große Wohnungen, üppige Gehälter und gutes Essen, das man auch außerhalb der Saison einflog.
Kein Zug fuhr in die Stadt, und es gab keine Straße hinaus. Damals war der einzige Weg, sie zu erreichen, durch die Luft. Von drei Seiten umgab die Taiga die Stadt wie ein Burggraben aus Bäumen, und auf der vierten Seite lag Polyn.
Man erzählte sich, dass Polyn 66 in jenen Tagen ein wahres Sodom war. Wenn man sich nicht gerade für die Jagd und das Eisfischen begeisterte, bot einem der Norden nicht viel Freizeitangebote. Zwar gab es einige Theater und sogar ein Opernhaus, aber die meisten Bewohner verbrachten ihren Feierabend lieber mit Trinken und sexuellen Eskapaden.
Was diese Menschen allerdings zu etwas Besonderem machte, war ihre Tätigkeit bei Tage. Gleichsam wie das Gehirn einer ganzen Gattung versuchten sie sich an der Lösung von Problemen, die die Menschheit plagten, seit sie gelernt hatte, Funken aus Feuerstein zu schlagen. Man kann die Summe ihrer Leistung heute nicht auch nur ansatzweise ermessen, aber man kann mit Fug und Recht sagen, dass es keinen Zweig menschlichen Wissens gab, zu dem sie nicht etwas beitrugen. Sie stellten verbesserte Brennstoffe her, tödlichere Waffen, ertragreicheres Saatgut. Sie blickten durch riesige Fernrohre zu den Sternen und
schmiedeten Pläne, die Menschheit in den Weltraum zu tragen. Sie hatten einen völlig anderen Blick auf die Dinge als gewöhnliche Menschen. Sie dachten in Kategorien von Genesis und Apokalypse, rangen mit Geburt und Tod ganzer Zivilisationen – wie man das Leben auf einem Planeten vernichtete und wie man es später einmal wieder dorthin zurückbrachte.
Womöglich rührten sie an Dingen, die zu verstehen wir kein Recht haben: Wie man einem Leichnam wieder Leben einhaucht, wie man die Lebensspanne eines Menschen verdoppelt, wie man ein Kind ohne Liebesakt zeugt … Aber das, was sie am meisten interessierte, war etwas, das »Danielsfeuer« hieß. Außer dem Namen konnte uns Tolya nicht mehr darüber sagen.
Wegen der großen Bedeutung von Polyn 66 hatte die Regierung die Versorgung der Stadt immer aufrechterhalten. Erst als Krieg und Chaos ausbrachen, wurden die Bewohner in Flugzeuge gesetzt und nach Westen in Sicherheit gebracht, und die Stadt wurde dem Verfall preisgegeben.
Zurück blieb die Frucht all dieser jahrelangen Arbeit.
»Erinnert ihr euch«, sagte Tolya, »wie Gott im Buch Genesis den Garten Eden nach der Vertreibung von Adam und Eva von einem Engel mit einem flammenden Schwert bewachen lässt? Im Garten stehen zwei
verbotene Bäume: der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Gott will nicht, dass Adam und Eva von beiden essen, sonst würden sie selbst zu Göttern, also versperrt er ihnen den Weg und schickt sie in die Verbannung. Nun, die Regierung fällte dieselbe Entscheidung. Es gibt Dinge in Polyn, die – wenn man weiß, wie man sie verwendet – einen wahrlich zum Gott machen können. Also hängten sie ein flammendes Schwert über die Stadt. Und dieses Schwert hatte einen Namen.«
Als Tolya den Namen sagte, bekreuzigten sich einige der Männer. So wie sie sich im Lager gaben, hätte man nie gedacht, dass sie eine religiöse Ader hatten. Sie hatten Gott in ihrem Inneren vergraben – wie Leute, die während einer Hungersnot Essensvorräte vergraben und ihren Nachbarn die leeren Handflächen zeigen.
Der Name ist mir im Gedächtnis geblieben, weil er so merkwürdig schön war: Anthrax. Ich hatte dieses Wort noch nie gehört, es klang für mich wie einer jener Götter, die die Tungusen anriefen, oder wie eine uralte,
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