Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
bloßzustellen, weiß ich nicht. Jedenfalls ließ er mich anschließend in den Hof bringen, wo sie mich für eine Weile gefesselt ließen, bevor sie mich wieder holten.
Sie brachten mich in einen Raum mit Jalousien über den Fenstern, in dem trotz der Hitze draußen ein Ofen bullerte, den sie von Zeit zu Zeit mit Haken schürten – ganz offensichtlich, um mich glauben zu machen, dass sie mich damit verbrennen würden. Sie wollten wissen, weshalb ich gelogen hatte und woher das Glas kam und warum ich es versteckt hatte, aber die Wahrheit war, es juckte ihnen einfach in den Fingern, den Boden mit mir zu wischen.
Eine der Wachen trat mit einer Rolle Dokumente vor und breitete sie vor mir aus. »Ich will, dass du dir diese Zeichnungen ganz genau ansiehst und mir sagst, ob irgendwelche Funde der Gefangenen dabei sind.«
Es waren sechs Bögen dünnen, wächsernen Papiers.
Die Zeichnungen darauf waren sehr exakt und mit Maßen und Zahlen versehen. Manche Beschriftungen waren auf Russisch.
Einige der Bilder erkannte ich wieder – Anzüge und Masken, wie die Wachen sie getragen hatten, etwas, das an ein Gewehr erinnerte –, andere aber waren einfach zu eigenartig, als dass ich mir einen Reim auf sie hätte machen können.
Ich schüttelte müde den Kopf und sagte, das Glas sei alles, was wir gefunden hätten.
Sie ließen mich zum Schlafen allein. Am nächsten Tag klopfte es um die Mittagszeit an der Tür, und ein Teller Essen wurde hereingeschoben. Es gab Wurst, altes Brot und Rote-Bete-Suppe. Die Wurst erkannte ich als Reste unseres Festessens wieder – sie war ledriger geworden, und Öltropfen hatten sich an ihren Enden gesammelt.
Während ich aß, öffnete sich die Tür erneut, und Callard kam mit zwei Wachen in das Zimmer.
»Sorgt dafür, dass ihre Hände gefesselt sind«, sagte er.
Die Wachen banden meine Arme an einen Stuhl und zogen die Stricke fest. Dann verließen sie den Raum. Das Geräusch vom Schließen der Tür hallte durch die darauf folgene Stille.
Nach einer Weile räusperte sich Callard und sagte:
»Wie siehst du aus, Makepeace? Sie sagen, du bist … gezeichnet.«
»Ich habe mich nicht groß verändert«, erwiderte ich. »Aber was ist mit deinen Augen passiert?«
»Willst du die lange Antwort oder die kurze?«
Ich sagte, mir seien beide recht.
Callard fuhr mit der Hand ruhig und zielsicher über den Tisch, bis sie an den Löffel stieß. Mit seiner anderen ertastete er die Suppenschüssel und rührte dann darin herum, bis die Brühe so trüb wie seine Augen wurde.
»Weißt du«, sagte er, »vor Evangeline hatten wir ein großes Grundstück in der Nähe von Esso. Das war der Grund, weshalb wir Amerika verließen. Es war wunderbar. Die Erde dort ist vulkanisch und ertragreich, und es gibt heiße Quellen direkt unter der Stadt. Man führt nur ein Rohr ein – und schon hat man heißes Wasser. Wir hatten beheizte Gewächshäuser, Tomaten das ganze Jahr. Wir lagen an einem Berghang, auf dem man Ski fahren konnte, und hatten nur ein paar hundert Meilen bis Petropawlowsk. Und ich wette, du hast geglaubt, in Evangeline konnte man gut leben.« Er seufzte leicht. »Dann kamen die ganzen Veränderungen. Wir wurden überrannt. Da waren Russen und Ewenken und ein paar Koreaner, die schon immer dort gewesen waren. Sie gründeten eine Miliz und warfen alle anderen hinaus. Es
war ihnen völlig egal, ob wir einen Anspruch auf das Land hatten. Die nächsten fünf Jahre ging es immer nur bergab. Erst raus aus Esso. Dann raus aus Evangeline, dank James Hatfield und seinen Leuten. Wusstest du, dass wir ohne irgendetwas abhauen mussten? Ein Haufen Männer kam mit Fackeln zu unserem Haus. Sie sagten, jemand habe James Hatfields Mädchen vergewaltigt, und ich soll es gewesen sein. Ich bot an, rauszukommen und mit ihnen zu reden, aber mein Vater sagte, ich solle das bleiben lassen. Es war mitten in der Nacht. Mit denen war nicht zu reden. Sie hätten mich an Ort und Stelle aufgeknüpft. Während wir darüber stritten, was wir tun sollten, setzten sie das Dach in Brand. Wir schnappten uns, was wir konnten, und flohen durch die Hintertür. Es war mein neunzehnter Geburtstag. Ich sollte darüber verbittert sein, aber ich bin es nicht, denn das war der Beginn all des Guten, das mir widerfuhr.« Er rührte eine Weile still in der Schüssel, dann ließ er den Löffel sinken. »Wir mussten zu Fuß nach Magadan. Es war Sommer. Ich weiß nicht, wie wir auf diesem Highway überlebt haben – was ich dort sah, ließ einem
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