Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
bin durch mein Leben geschlichen wie eine Katze auf dem Eis, habe jeden Schritt getestet, ehe ich ihn tat. Und jetzt stellte sich heraus, dass ich auf Zehenspitzen in eine Bärenfalle getappt war.
Es ist schlimm, wenn das Unglück durchs offene Fenster hereinkommt, aber was will man da machen? Das passiert jedem mal. Wenn man sich allerdings in einem Stahlschrank verbarrikadiert, die Hände reibt und jahrelang allen erzählt, wie sicher man ist … Die Art von Unglück meine ich. Jedermann sieht es kommen, nur man selbst nicht.
Die Jahre lagen vor mir wie eine gefrorene Winterstraße. Die Hoffnung, von der ich gezehrt, von der ich hinter vorgehaltener Hand gesprochen hatte wie von einem versteckten Schatz, war verflogen.
Wie hatte ich nur vor Ping oder dem Flugzeug leben können – ohne die Vorstellung, dass irgendwo Kinder zur Schule gingen und die Toten begraben wurden und ein Pianola sauber gestimmt war? Den ganzen Winter im Dunkeln zu sitzen und darauf zu warten, dass mir die Kerzen ausgingen, und zu versuchen,
einen Nachhall jenes Lebens zu hören, das einst dort gewesen war. Nachts wachzuliegen. Meine Waffen zu putzen. Zum Stall rauszustapfen, mit dem Sattel über der Schulter …
Nein, mein Leben zählte nicht mal als Leiden. Es war ein langer, grausamer Scherz, den der Wind in den Schnee geschrieben hatte.
5
EIN MERKWÜRDIGER GERUCH hing in der Luft. Ich erwähnte es den Wachen gegenüber, als sie mich gegen Mittag abholten, und sie sagten, die Destille laufe auf Hochtouren, um Treibstoff für das Flugzeug zu erzeugen. Das hieß auch, dass die Küche knapp an Helfern war, und die meisten Gefangenen auf halbe Ration gesetzt waren.
Ich fragte mich, ob das wirklich klug war. Bei all seinen Fehlern und seiner Grausamkeit hatte Boathwaite die Gefangenen nie hungern lassen. Das Essen war einfallslos, aber immer reichlich gewesen – Boathwaite hatte ebenso gut gewusst wie ich, dass satte Menschen fügsamer waren.
Knurrende Mägen, der alte Boss weg – da hing mehr als nur die Schwaden der Brennerei in der Luft. Das roch nach Meuterei.
Sie eskortierten mich über den Appellplatz. Ich kannte den Weg so gut wie sie, aber offenbar hatten sie Order, mich nicht aus den Augen zu lassen.
Draußen auf den Feldern arbeiteten die Männer so
langsam wie früher, rissen das Unkraut aus, reparierten die Zäune, hüteten die Tiere. Alles sah so aus wie immer. Und doch hatten sich in meiner Abwesenheit einige Veränderungen vollzogen.
Mit Boathwaites und Tolyas Tod war das Kommando über den »Stützpunkt« einem Mann namens Purefoy zugefallen. Er stammte ebenfalls aus einer Siedlerfamilie, war aber ein schüchterner Mensch, dem Boathwaite meiner Meinung nach vor allem deshalb vertraut hatte, weil er nicht das gewisse Etwas eines geborenen Führers besaß und bei den anderen Wachen nicht besonders viel Einfluss hatte.
Sie hatten in Boathwaites früherem Zimmer ein Bankett aufgebaut, aber mir war gerade nicht nach Essen zumute. Purefory und ein halbes Dutzend der dienstältesten Wachen war da. Sie hatten sich rasiert und ihre besten Sachen angezogen, und einige von ihnen hatten sogar ihre Frauen mitgebracht. An der Art, wie die Männer vor Eben Callard und seinen Leuten katzbuckelten, sah man, dass sie sich in seiner Gegenwart wie Primitivlinge vorkamen.
Die Frauen trugen altmodische Abendkleidung und saßen an einem Extratisch. Ich fragte mich, was wohl aus Boathwaites Frau und ihrem kleinen Mädchen geworden war.
Sie hatten für mich einen Platz am großen Tisch reserviert. Eben Callard saß am Kopfende, und etwa vierzehn Plätze waren eingedeckt. Das meiste Essen stammte aus dem Lager, einiges davon musste aber mit ihnen im Flugzeug gekommen sein. So gab es süßen Wein für die Frauen, kleine Häufchen orangefarbener Lachseier, Schüsseln mit Würfelzucker, Krebsfleisch aus Dosen und Cognacflaschen mit echten Etiketten.
Auf ein Zeichen einer der Wachen hin nahmen wir Platz.
Es war eine ziemlich angespannte Tischgesellschaft. Niemand wusste, wann wir mit Essen anfangen sollten.
Callard drehte langsam ein Glas Cognac zwischen den Fingern. »Wir kommen nicht oft zu Besuch«, sagte er. »Wir wollen keinen schlechten Eindruck hinterlassen. Bestimmte Dinge mussten getan werden. Einige harte Entscheidungen mussten getroffen werden. Aber das ist jetzt Vergangenheit.«
Er meinte ganz offensichtlich Boathwaite, der unten im Hof in der Sonne schmorte. Ich fragte mich, welchen Vergehens sie ihn für schuldig gehalten
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