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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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hatten. Hatte er nicht das Lager geführt, wie sie es von ihm wollten? Die groben Gefangenen zu Feldarbeitern machen und Trupps raus in die Zone schicken, um Polyn zu durchstöbern. War er ihnen als Kommandant
vielleicht zu sanftmütig gewesen? Hatte er nicht genug aus der Zone rausgeholt? Oder wurde sein Schicksal durch irgendwelche politischen Ränke besiegelt, die sich meiner Kenntnis entzogen – so wie die, die zu meiner Gefangenschaft bei Boathwaites Bruder, dem Reverend, geführt hatten?
    Ich nahm an, dass, verglichen mit der Welt, aus der Callard zu uns geflogen war, all das hier nur ein Nebenschauplatz war. Womöglich hing seine Stellung dort von seinen Abenteuern hier im Norden ab. Ich wusste nun, dass etwas vor sich ging. Und dieses Etwas auf der anderen Seite der Meerenge hatte uns nicht aufgegeben – ja, tatsächlich schien es sich Rettung von uns zu versprechen.
    Plötzlich erwähnte Callard die Zone und riss mich damit aus meinen Gedanken. Er hatte seine weißen, blinden Augen auf mich gerichtet. »Die letzte Reise in die Zone war äußerst vielversprechend. Wir freuen uns darauf, mehr darüber zu erfahren, ehe wir aufbrechen.«
    Dann sprach er einen Toast aus und führte sein Glas an die Lippen. Der Pegel darin änderte sich jedoch kaum, während die Wachen überall am Tisch ihre Gläser leerten. Purefoy sprach ebenfalls einen Toast aus. Und die Leute begannen zu essen und noch mehr zu trinken, und die Stimmung im Raum löste sich etwas.

    Die Wache neben mir reichte mir geröstetes Fleisch von einem Tablett. Ich hatte ihn als Schlägertyp in Erinnerung. Das Gesicht vom Alkohol gerötet, prahlte er erst mit seiner jungen Frau und flüsterte mir dann zu: »Vor einem Jahr haben sie ihm eine letzte Chance gegeben. Das war, als sie den Japsen aus Alaska rüberschickten.« Er nickte mit dem Kopf Richtung Apofagato, der am anderen Ende des Tisches saß. »Aber das Problem war, Boathwaite war verdammt noch mal zu lasch. Ein Dutzend Gefangene oder so pro Jahr können dort nie was ausrichten. Sie müssten schon das ganze Lager raustreiben, sie massenweise in die Zone schicken.«
    Bei dem Wort »lasch« musste ich an den Leichenhaufen im nassen Schnee auf der Brücke denken.
    »Wo gehobelt wird, fallen Späne«, sagte er dann.
     
    Das Essen zog sich hin. Der Nachschub an Alkohol riss nicht ab, ich trank aber nichts, ebensowenig Eben Callard. Am späten Nachmittag dann war der Geräuschpegel im Raum ohrenbetäubend. Die Männer brachten im Wechsel exotische Trinksprüche aus. Die Frauen waren rot im Gesicht und kicherten.
    Plötzlich schnitt Callards Stimme durch das Gelächter. »Wir haben noch gar nichts von Makepeace gehört«, sagte er.
    Ich erwiderte, dass es nicht meine Art sei, mich in
den Vordergrund zu spielen, aber Callard sagte, dass er nicht an einen Trinkspruch gedacht hatte. Er wollte, dass ich etwas über die Zone sagte – und was wir dort gefunden hatten.
    Also erzählte ich ihnen, was ich gesehen hatte, ließ allerdings meinen eigenen Ausflug in die Stadt weg. Ich erzählte ihnen von dem Tungusenjungen und dem Gift und wie wir die Gefangenen auf der Brücke erschossen haben. Ich erzählte ihnen von Zulfugar und dem Geschoss, das ihn wie einen Apfel entkernt hatte.
    Dieses Wort – »lasch« –, das der Mann neben mir benutzt hatte, kam mir immer wieder in den Sinn. Ich wollte, dass sie es alle wussten, auch die Frauen, geschah es doch in ihrem Namen.
    Dann erzählte ich ihnen, dass wir mit leeren Händen zurückgekehrt waren. Sie hörten mir höflich und ohne großes Interesse zu – als wären dies alles Dinge, über die wir nicht sprachen, die uns aber völlig klar waren.
    Als ich fertig war, dankte mir Callard und fragte dann: »Bist du sicher, dass du ehrlich zu uns warst?«
    Ich nickte.
    »Weil ein paar meiner Leute nämlich deiner Spur in den Wald gefolgt sind und ein wenig gegraben haben. «
    Er gab ein Zeichen, und jemand brachte einen
Sack herein. Ich wusste, was darin war. Ich hatte es vorige Nacht nahe der Asche meines Feuers vergraben.
    Callard griff hinein und zog das blau schimmernde Glas hervor. Er hielt es mit beiden Händen hoch, als ob er es segnen wollte, und es wurde so still im Raum, dass man das schwache Summen hören konnte, das von dem wogenden Licht ausging.
    »Ich wünschte, ich hätte Augen, es zu sehen«, sagte Callard. »Es soll ja ziemlich schön sein.«

6
    WARUM EBEN CALLARD es nötig hatte, ein solches Theater zu veranstalten, um mich als Lügner

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