Weites Land der Träume
Regen. Alice war todmüde und musste zugeben, dass sie sich fürchtete. Erst vor kurzem hatte die Bank einigen benachbarten Farmern die Kredite gekündigt, und sie fragte sich jeden Morgen beim Aufwachen, ob sie wohl als Nächste an der Reihe sein würde.
Alice wusste, dass sie bald mit dem Programm zur künstlichen Besamung beginnen musste, das die Haupteinnahmequelle von MerryMaid werden sollte. Dank ihrer Fachkenntnisse in der Genmanipulation, die sie bei Professor Dixson erworben hatte, hielt sie sich für fähig, eine Rasse zu züchten, die genau die gewünschte Sorte Wolle erzeugen würde. Allerdings brauchte sie dazu unbedingt zusätzliche Tiere, doch das bedeutete mehr Futter. Alices Vorräte gingen allmählich zur Neige, obwohl sie auf Frasers Rat hin alles eingelagert hatte, was sie hatte anbauen können, bevor die Trockenheit richtig zuschlug. Inzwischen jedoch musste sie Futter zukaufen, um zusätzliche Widder und Mutterschafe zu ernähren, und dazu fehlte ihr schlichtweg das Geld.
Mit einem Seufzer schlug Alice die Hände vors Gesicht. Sie hatte zwar ihre gesamte Kraft in ihre Farm gesteckt, aber offenbar war das noch nicht genug.
Geistesabwesend ging sie in die Küche, um sich eine Tasse Tee zu holen.
»Mr. Munro hat gerade für dich angerufen, Alice«, verkündete Marigold und butterte Brötchen für die vormittäg
liche Teepause.
»Also ist es jetzt so weit«, erwiderte Alice bedrückt.
Sie machte sich auf das Schlimmste gefasst, als sie die Nummer der Bank in Coonabarabran wählte und höflich aufgefordert wurde, so bald wie möglich einen Termin mit Mr. Munro zu vereinbaren. Bedrückt, aber wohl wissend, dass es zwecklos war, das Unvermeidliche hinauszuschieben, verabredete sie sich noch für denselben Nachmittag. Es war Freitag, weshalb sie anschließend zu Bea fahren konnte, um Vicky abzuholen. Vicky war inzwischen sieben, besuchte seit einem halben Jahr die Grundschule in Billabrin und wohnte während der Woche bei Tante Bea. Es war zwar eine schwere Entscheidung für Alice gewesen, doch die MerryMaid-Farm lag einfach zu weit ab, und trotz des Schulfunks im Radio und Marigolds Hilfe fand Alice, dass Vicky in Billabrin eine bessere Ausbildung erhalten würde.
Auf der Fahrt nach Coonabarabran musste Alice beim Gedanken, MerryMaid zu verlieren, die Tränen unterdrücken. In der kurzen Zeit, die sie die Farm nun besaß, hatte sie dort ihre Wurzeln gefunden und fühlte sich zu Hause. Sie kannte jeden Zentimeter ihrer Weiden und jedes einzelne ihrer Tiere. Traurige Gedanken gingen ihr durch den Kopf. War es naiv von ihr gewesen zu glauben, dass sie es trotz ihrer Unerfahrenheit mit dem Busch aufnehmen konnte? Wie sollte sie Bea und Ray je für das in sie gesetzte Vertrauen entschädigen? Konnte sie ihnen jemals wieder gegenübertreten, obwohl sie sie so enttäuscht hatte? Offenbar war ihr Traum doch zum Scheitern verurteilt.
»Sei nicht albern«, schalt sie sich dann. »Du siehst das alles viel zu schwarz. Zieh keine voreiligen Schlussfolgerungen.« Aber das mulmige Gefühl ließ sich nicht abschütteln, als sie die Bank betrat. Mit einem tapferen Lächeln ließ sie sich von Mr. Munro in sein Büro führen, wo der Filialleiter sorgfältig die Tür hinter ihnen schloss.
»Wann muss ich ausziehen?«, platzte sie heraus, setzte sich rasch und schlug die langen Beine übereinander, um ihre Nervosität zu verbergen.
»Wie bitte?«, erwiderte Mr. Munro, breitete Alices Akte auf seinem leeren Schreibtisch aus und nahm ihr gegenüber Platz. Alice klopfte das Herz bis zum Halse.
»Sie wollen mir doch den Kredit kündigen, richtig? Deshalb bin ich ja hier«, entgegnete Alice, die die Anspannung nicht mehr ertragen konnte. Mit einem freundlichen Lächeln blickte Mr. Munro über seinen riesigen Schreibtisch hinweg.
»Ganz im Gegenteil. Ich möchte dieses Telegramm mit Ihnen besprechen, das vor zwei Tagen eingetroffen ist.« Er schob ihr ein Blatt Papier zu. »Es ist von einem Mr. Dixson, der uns anweist, Ihnen die Summe von fünfundzwanzigtausend Pfund Sterling zur Verfügung zu stellen. Kann das richtig sein? Es ist zwar an Sie adressiert, aber es ist doch eine ziemlich hohe Summe, um sie einer jungen Dame anzuvertrauen.«
Alice blieb der Mund offen stehen, und sie starrte eine volle Minute lang verständnislos auf das Schreiben. »Bestimmt liegt da ein Irrtum vor«, meinte sie schließlich. Obwohl sie seit ihrer Rückkehr nach Australien mit den Dixsons in Kontakt geblieben war, hätte sie nie mit
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