Wellenbrecher
Blattläuse! Wenn wir in dem Jahr nicht gerade eine Blattlausplage gehabt hätten und sie mit ihrem Unglücksschleier nicht sämtliche Biester im Umkreis von zwanzig Kilometern eingefangen hätte, als sie von der Kirche zum Empfang ging... Was war das doch, was du damals zu ihr gesagt hast? Irgendwas mit Tarnung.«
»Ich habe ihr lediglich dazu gratuliert«, erklärte Celia würdevoll, »daß sie sich ihrer Umgebung so gut angepaßt hatte.«
Maggie lachte. »Stimmt, jetzt erinnere ich mich. Mein Gott, warst du gehässig.«
»Damals hast du es komisch gefunden«, sagte Celia. Sie versuchte, ihre kranke Hüfte zu entlasten. »Ich rede mit Mary«, versprach sie. »Bei meinen Freunden Schulden einzutreiben ist wahrscheinlich immer noch weniger peinlich, als bei Matthew und Ava zu betteln.«
4
Gutachten über den physischen und psychischen Zustand des unbekannten Kleinkinds, genannt »Baby Smith«
Physischer Zustand: Das Mädchen ist bei ausgezeichneter körperlicher Gesundheit. Es ist gut genährt und gepflegt und leidet an keinerlei Krankheiten. Blutuntersuchungen haben kleinste Spuren von Benzodiazepin (möglicherweise Mogadon) ergeben sowie auffällige Spuren von Paracetamol. Es gibt keinerlei Hinweise auf früheren oder kürzlich erfolgten körperlichen Mißbrauch, auch nicht sexueller Art; gewisse Anzeichen sprechen allerdings dafür (siehe unten), daß das Kind an einem länger zurückliegenden oder noch fortbestehenden seelischen Trauma leidet. Äußere Indizien lassen darauf schließen, daß es etwa drei bis vier Stunden vor seiner Auffindung von Eltern oder Aufsichtsperson getrennt wurde - das läßt sich vor allem aus der Tatsache folgern, daß seine Kleidung sauber war und die Unterwäsche keinerlei Kotspuren aufwies. Ferner zeigte es keine Anzeichen von Flüssigkeitsmangel, Unterkühlung, Hunger oder Erschöpfung, wie sie bei einem Kind, das längere Zeit ausgesetzt gewesen ist, zu erwarten wären.
Psychischer Zustand: Verhalten und soziale Fähigkeiten des Mädchens entsprechen denen eines zweijährigen Kindes, seine Größe und sein Gewicht legen jedoch den Schluß nahe, daß es älter ist. Das Mädchen zeigt Symptome von leichtem Autismus; um jedoch eine endgültige Diagnose zu stellen, müßte seine Vorgeschichte bekannt sein. Es bekundet kein Interesse an anderen Menschen/Kindern und reagiert auf Annäherung aggressiv. Es ist übermäßig passiv, sitzt lieber still da und beobachtet, statt seine Umgebung aktiv zu erforschen. Es ist unnatürlich verschlossen und unternimmt keinerlei Versuche, sich mündlich mitzuteilen, bedient sich jedoch einer Zeichensprache, um zu erreichen, was es will. Sein Gehör ist unbeeinträchtigt, und es hört auf alles, was man ihm sagt, ist jedoch wählerisch, wenn es Anweisungen ausführen soll. Zum Beispiel zeigte es auf Aufforderung bereitwillig auf einen blauen Würfel, weigerte sich aber, ihn zur Hand zu nehmen.
Unfähig oder nicht gewillt, sich verbal zu äußern, setzt es sehr schnell Geschrei und Wutanfälle ein, wenn es nicht seinen Willen bekommt oder sich bedrängt fühlt. Das wird besonders deutlich, wenn Fremde das Zimmer betreten oder Stimmen über einen gleichbleibenden Ton hinausgehen. Es verweigert bei einer ersten Begegnung ausnahmslos jeden körperlichen Kontakt, hebt jedoch bei der zweiten sofort die Arme, um hochgenommen zu werden. Das scheint darauf hinzuweisen, daß sein Wiedererkennungsvermögen gut ausgebildet ist; andererseits zeigt es eine starke Angst vor Männern und bricht in Angstgeschrei aus, wenn sie sich ihm nähern. Da keinerlei Hinweise auf körperlichen Mißbrauch vorliegen, könnte diese Angst folgende Ursachen haben: Das Kind ist den Umgang mit Männern nicht gewöhnt, da es in einer behüteten, ausschließich weiblichen Umgebung aufgewachsen ist. Es hat männliche Aggression gegen eine andere Person, z. B. Mutter oder Geschwister, miterlebt.
Resümee: In Anbetracht der verzögerten Entwicklung des Mädchens und der offenkundigen streßbedingten Störungen sollte es seinen Eltern oder Pflegepersonen vorerst nicht wieder anvertraut werden, solange die häuslichen Verhältnisse nicht gründlich geprüft worden sind. Es sollte unbedingt als »Risikofall« eingestuft werden, damit seine zukünftige Entwicklung kontinuierlich beobachtet werden kann. Ernste Sorge bereiten mir die Spuren von Benzodiazepin und Paracetamol im Blut des Kindes. Benzodiazepin (ein starkes Psychopharmakon) ist für Kinder nicht empfohlen, schon
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