Wellenbrecher
gar nicht in Verbindung mit Paracetamol. Ich vermute, daß das Kind sediert wurde, kann mir aber keinen berechtigten Grund für eine solche Maßnahme vorstellen.
N. B. Ohne Näheres über die Vorgeschichte des Kindes zu wissen, ist schwer zu sagen, ob sein Verhalten zurückzuführen ist auf: 1. Autismus; 2. seelisches Trauma; 3. eine anerzogene Abhängigkeit, die ihm einerseits nicht erlaubte, seine Fähigkeiten zu entwickeln, und andererseits bewußt manipulatives Verhalten förderte.
Dr. Jane Murray
5
Es waren vierundzwanzig endlos lange Stunden gewesen, und Constable Griffiths gähnte, als ihr Telefon am Montag mittag schon wieder schrillte. Sie hatte den lokalen Radio- und Fernsehsendern Interviews gegeben, um die Auffindung des ausgesetzten Kindes Lily (so genannt nach dem Ortsteil Lilliput, wo es gefunden worden war), publik zu machen, und die Reaktion auf die Sendungen war zufriedenstellend gewesen. Aber nicht einer der Anrufer hatte ihr sagen können, wer das Kind war. Sie gab dem Wetter die Schuld. Zu viele Leute waren draußen in der Sonne; zu wenige saßen daheim am Radio oder vor dem Fernseher. Sie unterdrückte ihr Gähnen und griff nach dem Hörer.
Die Stimme des Mannes am anderen Ende klang nervös. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er, »aber ich bekam gerade einen Anruf von meiner Mutter. Sie ist völlig aus dem Häuschen wegen irgendeines kleinen Kindes, das in Poole allein auf der Straße herumgeirrt ist und angeblich wie meine Tochter aussieht. Ich habe ihr gesagt, daß es unmöglich Hannah sein kann, aber« - er machte eine kurze Pause - »wissen Sie, wir haben beide mehrfach versucht, meine Frau anzurufen, aber es meldet sich nie jemand.«
Griffiths klemmte sich den Hörer unter das Kinn und griff nach einem Stift. Dies war bereits der fünfundzwanzigste Vater, der anrief, seit das Foto des Kindes im Fernsehen gezeigt worden war, und bisher hatte jeder dieser Väter von Frau und Kindern getrennt gelebt. Sie hatte wenig Hoffnung, daß es bei diesem Kandidaten anders sein würde, aber sie war bereit, die ganze Prozedur erneut durchzuexerzieren.
»Wenn Sie mir ein, zwei Fragen beantworten würden, Sir, könnten wir wahrscheinlich sehr schnell feststellen, ob dieses kleine Mädchen Ihre Tochter Hannah ist. Würden Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse geben?«
»William Sumner, Langton Cottage, Rope Walk, Lymington, Hampshire.«
»Und leben Sie mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter zusammen, Mr. Sumner?«
»Ja.«
Augenblicklich wurde ihr Interesse wach. »Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Vor vier Tagen. Ich bin zur Zeit auf einer Pharmakonferenz in Liverpool. Das letztemal habe ich mit Kate - das ist meine Frau - am Freitag abend gesprochen, und da war alles in Ordnung. Aber meine Mutter ist felsenfest überzeugt, daß dieses kleine Mädchen Hannah ist. Obwohl das völlig unsinnig ist. Meine Mutter sagte mir, daß die Kleine gestern in Poole gefunden wurde, und wie soll Hannah mutterseelenallein in Poole herumgeirrt sein, wo wir doch in Lymington wohnen?«
Griffiths hörte die wachsende Beunruhigung in seiner Stimme. »Rufen Sie jetzt aus Liverpool an?« fragte sie ruhig.
»Ja. Ich wohne im Regal, Zimmer Nummer zwo-zwo-dreifünf. Was soll ich tun? Meine Mutter ist außer sich vor Sorge. Ich muß sie beruhigen.«
Und dich selbst auch, dachte Griffiths. »Würden Sie mir Hannah bitte beschreiben?«
»Sie sieht aus wie ihre Mutter«, antwortete er ziemlich hilflos. »Blonde Haare, blaue Augen. Sie spricht nicht sehr viel. Wir haben uns deshalb schon Sorgen gemacht, aber der Arzt meint, es wäre nur Schüchternheit.«
»Wie alt ist sie?«
»Sie wird nächsten Monat drei.«
Es tat Griffiths weh, die nächste Frage zu stellen, da sie schon ahnte, wie die Antwort lauten würde. »Hat Hannah ein rosarotes gesmoktes Baumwollkleidchen und rote Sandalen, Mr. Sumner?«
Er brauchte einen Moment für die Antwort. »Zu den Sandalen kann ich nichts sagen«, erklärte er mühsam, »aber meine Mutter hat ihr vor ungefähr drei Monaten ein gesmoktes Kleid gekauft. Ich glaube, es war rosa - nein, ich weiß, daß es rosa war. O Gott« - seine Stimme versagte -, »wo ist Kate?«
Sie wartete einen Augenblick. »Sind Sie mit dem Auto in Liverpool, Mr. Sumner?«
»Ja.«
»Können Sie ungefähr sagen, wie lange Sie bis nach Hause brauchen?«
»Fünf Stunden vielleicht.«
»Und wo lebt Ihre Mutter?«
»In Chichester.«
»Dann geben Sie mir am besten ihren Namen und ihre Adresse,
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