Weller
Skizzenbuch, in einer Glasschale dahinter verschiedene Stifte. Auf den Fensterbänken Fundstücke aus der Natur: Treibholz, Steine, Federn, Muscheln. In einer Ecke des quadratischen Raumes ihre Fotoausrüstung: silberne Metallkästen mit Griffen, deren geöffnete Deckel den Blick freigaben auf Kameras, Objektive und andere Geräte, über deren Verwendung ich nichts hätte sagen können. Connor lief zur gegenüberliegenden Wand, tippte auf eins der dort befestigten, pizzakartongroßen Fotos, auf dem ich aus dieser Entfernung wenig mehr als ein im Dunkeln liegendes Haus erkannte.
»Das ist, was ich meine. Nichts Süßes. Schwärze. Düsternis. Apokalypse, wenn du so willst. Such a shit.«
Es fuhr mir wie ein elektrischer Schlag durch den Körper, als ich das Motiv eine Armlänge vor mir hatte. Sie hatte von außen in ein erleuchtetes Zimmer fotografiert. Ein Stillleben des Alltags. Das Fenster bildete den Rahmen für die Szene, die für immer eingefroren schien und alltäglicher nicht sein konnte. Eine dickliche Frau mit verlebtem Gesicht und einer Bierflasche in der einen Hand hob den anderen Arm in einer schwer zu deutenden Geste über ihren Kopf. Wollte sie sich unkenntlich machen, hatte sie die Fotografin bemerkt? Oder überprüfte sie ihren Achselgeruch? Das Zimmer war leer, eine Glühbirne baumelte von der Decke.
»Die Serie heißt Dummy . Das könnte jeder sein. Ist jeder.« Connor lief zu ihrem Rechner. »Sieh dir die anderen an.«
Die fünf Fotos an der Wand waren ebenso körnige Schwarzweißaufnahmen von anscheinend ohne ihr Wissen durch Fensterscheiben fotografierten Personen. Sie wirkten völlig durchschnittlich, befanden sich alle im Innern von Wohnhäusern, waren allein und leicht bekleidet bis halbnackt. Ich merkte, wie ich den Atem anhielt und ließ ihn pfeifend entweichen. Noch bevor ich entscheiden konnte, ob diese androgyne, leicht überdrehte Amerikanerin tatsächlich etwas mit den Fotos auf der CD-ROM oder sogar mit dem Mord zu tun haben konnte, kam sie zu mir, streckte mir ein Bier hin – erst jetzt bemerkte ich den Kasten unter ihrem Arbeitstisch – und blickte mich fragend an. Ich trank einen Schluck und deutete auf die Fotografien. »Hast du noch mehr von denen?«
»Yo. Ich hab die paar Wochen, die ich schon hier bin, gut genutzt, fahre nachts mit dem Moped herum – das habe ich mir geliehen – und lasse mich von den Fenstern anziehen. Wie eine Motte.« Sie lachte. Auf ihrem Laptop zeigte sie mir noch andere Fotos im selben Stil.
Ich versuchte, meine Beunruhigung zu verbergen. Jedenfalls hatte sie nicht nur Frauen aufgenommen. Es gab Männer, die mit nacktem Oberkörpern vor Fernsehern hockten oder im Unterhemd am Küchentisch brüteten. Schließlich ist es Sommer, sagte ich mir. Da haben die Leute eben wenig an. Ein seltsamer Sog ging von den abgebildeten Szenen aus. Sie schienen, obwohl wahrscheinlich zufällig entstanden, doch in irgendeiner Weise durchkomponiert. Sie strahlten etwas Größeres, Universelles aus. Die Fotografin hatte Personen in ihren Räumen zu so etwas wie einem gültigen Archetypus des Lebens in der westlichen Zivilisation stilisiert. Oder war doch alles inszeniert?
»Du bist so etwas wie ein Spanner.« Ich versuchte, es scherzhaft klingen zu lassen. Da wir beide hoch gewachsen waren, standen wir eigentümlich gebeugt vor dem Bildschirm, zwei demutsvolle Gläubige vor einem heiligen Schrein. Sie richtete sich auf und klappte den Deckel des Rechners zu.
»Nein. Manch einer ist Künstler. Der andere ist Material. Man kann es sich aussuchen.« Sie prostete mir mit ihrer Flasche zu. »Was bist du?«
Ein dummer alter Bewährungshelfer, der aus Angst um seine Frau so verunsichert ist, dass er meint, seine Menschenkenntnis eingebüßt zu haben, dachte ich im Stillen. Überall sah ich potentielle Mörder.
»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete ich stattdessen. »Das ist vermutlich die am schwersten zu beantwortende Frage überhaupt. Zumindest, wenn man es ehrlich meint.«
Durch das geöffnete Fenster drangen plötzlich Laute eines Tumults. Erregte Stimmen, das anhaltende Jaulen eines Tieres, erschrockene Rufe. Wir blickten beide hinaus. Auf dem Schlossplatz hatte sich eine Gruppe Ausstellungsbesucher rund um einen großen Hund geschart, der zuckend auf der Seite lag und die Schnauze immer wieder zu seinem von Blut dunkel gefärbten, zerfetzten Hinterlauf drehte.
»It’s showtime«, kommentierte Connor die Szene und durchmaß den Raum mit knallenden Absätzen.
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