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Weller

Weller

Titel: Weller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit
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umgetauft hatte, war mehr als ein albernes, spießiges Kokettieren mit irgendeiner Seefahrertradition. Es bedeutete mir viel, auf dem Meer auf einer soliden Basis namens Ellen unterwegs zu sein. Ganz so, wie ich es in meinem gesamten Leben empfand: Ellen war zugleich Heimstatt, Inspiration und Anker für mich. Ohne sie würde ich durch meinen Bewährungshelferalltag trudeln, möglicherweise irgendwann im Strudel des universellen Elends meiner Klienten verenden. Ich umgab mich tagtäglich mit dem Horror des Lebens an der gesellschaftlichen Unterkante. Verrohung, Verzweiflung, Wahnsinn als Ergebnis des allgegenwärtigen Verteilungswettkampfs. Menschen, die Alkohol, Drogen, Gewalt oder rechtsextremistischen Bauernfängern verfallen waren. Allein, weil sie von niemandem in den Arm genommen, allein gelassen wurden mit der Last der Verantwortung, Mensch zu sein. Wie ich dies aushielt? In meinem Leben gab es etwas – jeman-den – der die Waagschale meiner psychischen Gesundheit im Gleichgewicht hielt: Ellen. Wo, zum Teufel, war sie? Ich stolperte weiter.
    Nach rechts führte der enge Sandweg über einen kurvigen, baumbestandenen Parcours mal dicht am Wasser, mal quer durch das morastige, mit Büschen und knorrigen Bäumen bestandene Uferland. Hierher hätte Ellen ihr Weg auf der Suche nach Naturfundstücken geführt. Ich schaute mich nach allen Seiten um und schrie, als ich mich unbeobachtet fühlte, so laut ich konnte: »Ellen!« Über mir im Geäst tirilierte ein unsichtbarer Vogel sein Feierabendlied, mein Atem ging stoßweise, in der Ferne sägte der Motor eines Sportbootes durch die Abendluft.
    Sonst war alles still.
    Ich lauschte, bis ich meinte, das Fließgeräusch meines Blutes in den Adern zu hören. Irgendwo weiter entfernt knackte ein Ast. »Ellen?« Ich begann zu laufen. Niedrig hängende Zweige schlugen mir ins Gesicht, ich nahm die engen Kurven des Weges wie ein Slalomläufer. »Ellen, bist du hier?« Ich blieb stehen, lauschte.
    Nichts. Die Dämmerung machte das Licht diffus. Mückenschwärme fielen über mich her und ich schlug wild um mich. Da entdeckte ich in einiger Entfernung eine schemenhafte Gestalt auf dem Weg vor mir.
    »Ellen?«
    Ich setzte mich wieder in Bewegung, trabte schnaufend wie ein joggendes Walross mehrere Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, den Weg entlang, versuchte dabei, das Dickicht rechts und links mit meinen Blicken zu durchdringen. Als vor mir ein menschliches Wesen scheinbar aus dem Boden wuchs, stoppte ich abrupt.
    »Na, Herr Nachbar, mal etwas für die Gesundheit tun?«
    Mühsam kontrollierte ich meinen Atem, japste nach Luft, während ich Konrad Weber, Bäckermeister im Ruhestand und unser Nachbar von schräg gegenüber, wie es hier üblich war, mit Handschlag begrüßte. Zu seinen Füßen hechelte Leif, sein uralter Rottweiler, freundlich zu mir herauf.
    »Sag mal, Konrad, hast du Ellen da vorne irgendwo gesehen?«
    Er sah mich skeptisch an.
    »Wieso, ist sie dir weggelaufen?«
    Ich hatte weder den Nerv noch die Zeit, mich auf sein Frotzelei einzulassen. Es wurde nun immer schneller dunkel.
    »Scherz beiseite, Konrad. Ich mache mir Sorgen. Sie ist zu Fuß weg und noch immer nicht zurück. Hast du sie heute gesehen?«
    Weber verneinte und schloss definitiv aus, dass Ellen sich an diesem Uferstück aufhielt.
    »Ich hätte sie gesehen, glaub mir. Ich habe Augen wie ein Luchs«, behauptete er. »Und Leif hätte angeschlagen, wenn er jemanden abseits des Weges im Unterholz bemerkt hätte. Dem entgeht noch weniger als mir.« Er tätschelte den riesigen Hundekopf und Leif sabberte zum Dank ein wenig. Ich schluckte meine Verzweiflung hinunter, machte kehrt und fiel wieder in Trab. Der Sandboden unter meinen Füßen leuchtete hell – so dunkel war es bereits geworden. Die Sonne war jäh aus der Welt gestürzt. Meine Gedanken verwirrten sich zu konfusen Knoten.
    Ich mochte nicht daran denken und musste es doch, unablässig: Wenn dieses Schwein ihr etwas angetan, sie womöglich entführt hatte … Was sollte ich als Nächstes tun? Die Polizei verständigen? Alle Freunde und Bekannten von Ellen abtelefonieren? Einfach zuhause herumsitzen und darauf warten, dass sie wieder auftauchte? Eins schien mir so nutzlos wie das andere.
    Schnaufend und mit Seitenstichen erreichte ich die Barriere und wand mich schwerfällig zwischen den Eisenrohren hindurch. Deren Rostpickeln fühlten sich an meinen schweißigen Handflächen an wie das grobe Schleifpapier, das Ellen benutzte. Ich schluckte,

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