Weller
beunruhigen konnten. Auch Ellen gestand mir das Ausmaß ihrer Ängste und Verunsicherung ein, welches sie mir bisher nicht offenbart hatte, um mich nicht noch paranoider zu machen. Wir versprachen uns, zukünftig noch besser auf uns und einander aufzupassen und hielten uns lange, mit Tränen in den Augen, umarmt. Mehr konnten wir nicht tun.
***
Die Lokalzeitung brachte am nächsten Tag auf einer halben Seite die zu Porträts vergrößerten Bilder der Frauen von der Foto-CD und schrieb:
Wer kennt diese Frauen? Neue Spuren im Mordfall der Wismarer Studentin. Auch drei Wochen nach der Bluttat tappen die Ermittler noch im Dunkeln. Auf der Suche nach möglichen Zeugen gehen sie nun ungewöhnliche Wege. Im Umfeld der Tat sind diverse Fotos aufgetaucht, mit deren Hilfe Rückschlüsse auf die Identität des Täters gezogen werden sollen. Hierzu bittet die Kriminalpolizei die Abgebildeten, sich bei den örtlichen Polizeidienststellen oder dem Schweriner Kriminalkommissariat für Gewaltdelikte zu melden. ›Sie werden als Zeugen und nicht als Beschuldigte befragt werden‹, stellt Kriminalhauptkommissar Karsten Luckow klar.
Ich ließ die Zeitung sinken. Ellen hatte den Artikel bereits gelesen. Wir hatten heute das Glück, gemeinsam frühstücken zu können. In meiner Dienststelle wurden den ganzen Vormittag lang die maroden elektrischen Leitungen ausgewechselt. An ungestörtes Arbeiten war zwischen Lärm und Staub nicht zu denken. So hatte Frau Sänger, die von ihrer Sommergrippe genesen war, den Telefondienst sowie die Beaufsichtigung der Handwerker übernommen, während meine Kollegen und ich entweder Hausbesuche machten oder Überstunden abbummelten.
»Die wissen anscheinend nicht weiter.« Da eine solche Öffentlichkeitsfahndung einen großen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Abgebildeten darstellte, war sie eines der letzten Mittel, wenn die Kriminalpolizei alle anderen Ermittlungsansätze ausgeschöpft hatte.
»Wie furchtbar muss das für die Frauen sein, die sich jetzt auf diesen Fotos wiedererkennen und dann von der Polizei erfahren, was es mit deren Entstehung auf sich hat.« Ellen zog die Schultern hoch. »Die schreiben hier ja nicht, worum es bei der Sache geht.«
»Würdest du dich auf diesen Artikel hin bei der Polizei melden?«
Sie überlegte eine Weile.
»Das kommt darauf an. Zunächst würde ich mich fragen, wo das Foto entstanden ist, wer es aufgenommen hat. Die haben ja nur Ausschnitte veröffentlicht, auf denen man nicht erkennt, dass es sich um Spannerfotos handelt. Nur die Gesichter, ohne Hintergrund – die könnten überall aufgenommen worden sein. Heutzutage wird ja ständig wild fotografiert. Bei jeder Feier, bei jeder Veranstaltung, auf öffentlichen Plätzen.« Sie trank von ihrem Milchkaffee. »Die Fotos von den Schlafenden haben sie zum Glück nicht abgedruckt. Die würden ja wie tot wirken. Also könnten das hier irgendwelche Schnappschüsse sein. Vielleicht sogar aus dem Internet gesaugt. Gera- de die Jüngeren sind ja meist völlig unbefangen, was die Veröffentlichung privater Fotos anbelangt. Was da manches Mal für kompromittierende Aufnahmen ins Netz gestellt werden – entweder durch einen selbst oder durch andere – ist erschreckend. Wenn eine so tickt, würde sie sich möglicherweise gar nicht darum kümmern, weshalb sich die Polizei für ihr Bild interessiert; viele haben die Tatsache, dass ein Porträtfoto immer auch einen Teil von einem selbst beinhaltet, völlig abgespalten – um es mal im küchenpsychologischen Jargon auszudrücken.« Sie biss von ihrem Toast ab und überlegte kauend. »Und dann käme es natürlich auch darauf an, ob ich generell eine Freundin der Polizei wäre oder im Gegenteil aus ideologischen Gründen, vielleicht auch, weil ich vielleicht tatsächlich ein wenig Dreck am Stecken hätte, darauf pfeifen würde, woher die mein Foto haben und warum die wissen wollen, wer ich bin. Dann würde ich mich natürlich der Kripo gegenüber bedeckt halten.«
Trotz ihres ernsten und beunruhigenden Hintergrunds genoss ich unsere dahinplätschernde Plauderei. An den Wochenenden saßen wir oft beim ausgedehnten Frühstück beisammen, tauschten Meinungen aus, wogen Einschätzungen ab, philosophierten lustvoll drauflos. Dies an einem gewöhnlichen Donnerstag zu tun, kam mir wie purer Luxus vor. Ich betrachtete Ellen, wie sie ihre Ausführungen mit sicheren, großen Gesten untermalte. Wie würde ich gerade diese müßigen Momente mit ihr vermissen! Diesen
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