Weller
Tränen traten mir in die Augen. Von hier aus konnte ich das Dach unserer Scheune erkennen. Wie schnell konnte das heimische Idyll zusammenstürzen, die Harmonie einer Familie in tausende scharfkantiger Splitter zerschellen. Ich musste an die Frauen auf der Foto-CD denken. Waren einige von ihnen möglicherweise bereits tot, hatten Freunde, Partner, Familien hinterlassen? Oder wurden sie vermisst, hatte ihr Verschwinden die Angehörigen in blinde, tiefe Verzweiflung gestürzt? Ich setzte einen Fuß vor den anderen, wie ein Schlaganfallpatient, der bei jedem Schritt aufs Neue überlegen muss, welche Muskelgruppen er für die nächste Bewegung braucht. Ich wollte nicht in das leere, verlassene Haus zurückkehren, in dem mich jede Einzelheit an Ellen beziehungsweise ihre unerklärliche Abwesenheit erinnern würde. Es war kindisch, doch am liebsten hätte ich mich irgendwo versteckt, die Arme vor die Augen gelegt – nichts sehen, von niemandem gesehen werden, abwarten, bis alles unerträglich Schlimme vorbei wäre. Ich bog mit müdem Schritt um die Hausecke unserer Scheune – und war völlig perplex.
Auf dem Gehweg vor dem Haus parkte ein fremder Kombi mit eingeschaltetem Warnblinklicht und einem Anhänger, auf dem sich ein Gewirr von unterarmdicken, kahlen Ästen türmte. Ellen und ihre Freundin Margot lösten gerade die Spanngurte, die das Holz zusammenhielten. Ich machte ein, zwei beinahe taumelnde Schritte auf die beiden zu, rang um Fassung.
»Ellen!« Ich fand keine weiteren Worte. Erleichterung überschwemmte mich, legte sich wie nasse Watte in meine Mund und verhinderte jegliche vernünftige Äußerung. Beide Frauen starrten mich an, als wäre ich ein Geist. Ein kurzatmiger, völlig verschwitzter, blöde glotzender Geist.
An diesem Abend brachen wir unser unausgesprochenes Ta-bu und redeten noch lange über das, was passiert war, beziehungsweise das, was nicht passiert war, was ich aber in meiner Panik befürchtet hatte. Zunächst klärte Ellen mich darüber auf, wo sie gewesen war. Ihre Freundin Margot hatte mit ihr die Weidenäste bei einer Schäferin abgeholt, deren Tiere das Holz so komplett entrindeten, das es für die von Ellen konzipierte ›Augenarbeit‹ – eine Installation für einen Park – perfekt vorbereitet war.
»Davon habe ich dir aber schon einmal erzählt, Weller.« Sie kraulte mir das Kinn und drückte mit der anderen Hand meinen Oberschenkel. Wir saßen zusammen auf unserem alten Küchensofa, Quax döste hinter uns auf der Rückenlehne und vor uns auf dem Tisch standen Weingläser, Schälchen mit Oliven, Käsewürfeln, Salzmandeln und Silberzwiebeln. Ich brach etwas vom Baguette ab und stopfte es mir in den Mund. Mit einem Mal hatte ich einen Bärenhunger.
»Kann sein. Ich erinnere mich nicht.«
»Egal. Jedenfalls sind wir natürlich mit Margots Wagen gefahren, denn sie hat ja den Anhänger. Und ich habe dich angerufen, als uns die Schäferin noch zu einem Imbiss mit selbst gemachtem Käse eingeladen hat. Doch du hast ja nie deine Mailbox aktiviert.« In der Tat war ich sogar zu aufgeregt gewesen, um die Anrufe in Abwesenheit zu checken, nachdem mein Telefon wieder geladen war. Sonst hätte ich gesehen, dass irgendjemand versucht hatte, mich zu erreichen. Was meine Besorgnis allerdings wohl auch nicht gemildert hätte, denn bei der Schäferin hatte Ellens Mobiltelefon keinen Empfang gehabt und sie hatte von deren Festnetztelefon aus angerufen. Diese Nummer war mir natürlich gänzlich unbekannt.
»Weißt du eigentlich, dass ich mir um dich mindestens so große Sorgen mache, wie du dir um mich?« Ellen sah mir in die Augen und trank einen Schluck Wein. »Ich spüre da etwas beinahe Krankhaftes, Übersteigertes, das mir Angst macht. Du bist mir fremd geworden. Nicht der souveräne, bei allen Zweifeln letztendlich zuversichtliche Weller, den ich liebe, sondern es klingt etwas leicht Hysterisches bei dir durch. Etwas fast Wahnhaftes. Entschuldige.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, jetzt geht es mit mir durch. Aber im Kern meine ich das schon so. Du hast dich verändert seit dieser Sache mit den Fotos.«
Wir überlegten gemeinsam, ob meine jahrelange Beschäftigung mit dem Thema Gewalt, die Arbeit und der intensive Kontakt mit den Gewalttätern mich unmerklich so negativ beeinflusst hatten, mich in allem und jedem eine psychopathische Komponente wittern ließen. Doch wir kamen zu keinem Ergebnis. Schließlich gab es genügend reale Fakten, die uns zurzeit ernsthaft
Weitere Kostenlose Bücher