Wells, ich will dich nicht töten
Körper eingedrungen? Und warum? Formans Geständnis fiel mir ein: Wir sind durch das definiert, was uns fehlt. Was fehlte Niemand? Ein Gesicht, ein Name, eine Identität. Ein Freund. Schöne Kleider. Sie wollte ein normales Leben führen und nahm den Mädchen deren Leben weg, genau wie Crowley es getan hatte. Nur dass Niemand sie nicht gleich tötete. Sie übernahm das Bewusstsein, den Körper, die Seele.
Ich ging die Erinnerungen an die letzten Wochen mit Marci durch und suchte nach Hinweisen auf den Dämon. Wie lange hatte er schon in ihr gesteckt? Wie viel war sie selbst gewesen, wie viel der Dämon? War der Kuss echt gewesen? Der Tanz? Rachel war wenige Stunden nach dem Tanz gestorben, also war der Dämon frühestens am nächsten Morgen in Marci eingedrungen. Rachel hatte sich an diesem Abend seltsam verhalten und … sie hatte über Marci gesprochen. Sie hatte den ganzen Abend über Marci geredet, sie bewundert und beneidet. Schließlich hatte sie sich etwas gewünscht … sie wollte wie Marci sein. Sie wollte Marci sein.
Ich erstarrte vor Schreck. Marci hatte vor wenigen Stunden, kurz vor ihrem Tod, genau das Gleiche gesagt: Ich wünschte, ich wäre …
Sie hatte über Brooke gesprochen.
ZWEIUNDZWANZIG
Ich rannte zur Tür.
»John!«
»Ich muss los.«
»Schau dich doch mal an!«
Sie hatte recht. Auf der Fingerspitze klebte noch das schmierige Zeug, die Handschuhe und die Schürze waren rot vom Blut. Ich zog alles aus und warf es in den Müll.
»Wohin willst du?«, fragte Mom, doch ich hörte nicht auf sie, sondern schoss zur Tür hinaus und rannte zu Brooke hinüber.
Marci hatte nach dem Tanz öfter über Brooke gesprochen: wie mutig sie gewesen sei, wie stark, wie nahe sie mir stand. Als wir Brooke im Friendly Burger begegnet waren, hatte Marci vor Eifersucht geradezu gekocht, und auch als ich sie am Morgen angerufen hatte, um sie vor dem Dämon zu warnen, hatte sie Brooke erwähnt.
Wie bewegte sich das Ding, ohne bemerkt zu werden? Wie schnell war es? Seit Marcis Tod waren vier oder fünf Stunden vergangen. Kam ich zu spät?
Ich sprang die Treppe zur Veranda hinauf und hämmerte gegen die Tür. »Aufmachen!« Drinnen hörte ich Schritte, dann öffnete Brookes Mom.
»Hallo, John …«
»Ist Brooke heute Morgen zur Schule gefahren?«
»Ich …« Überrascht wich sie zurück. »Äh, nein. Sie fühlt sich nicht gut …«
Ich drängte mich an ihr vorbei und rannte durch den Flur zur Treppe, die nach oben führte. Das Haus war innen anders ausgebaut als Crowleys Haus, doch es war leicht zu erraten, welche Tür zum hinteren Eckzimmer gehörte. Ich hatte die Stufen schon hinter mir, unten rief Brookes Mom, da stand ich endlich vor der Tür und hämmerte mit der Faust dagegen. »Brooke! Brooke, mach auf. Ich bin’s, John.«
»Ich will heute keinen sehen.« Die Stimme klang geschwächt.
Nein, bitte nicht! Ich rüttelte am Türknauf, doch er war verriegelt. »Es ist wichtig, du musst mich reinlassen.« Wie sollte ich sie retten, wenn es schon in ihr steckte?
»John Cleaver!«, rief ihre Mutter, während sie hinter mir die Treppe heraufstampfte. »Was denkst du dir eigentlich dabei?«
»Bitte, Brooke, vielleicht ist noch Zeit. Du musst aufmachen!« Ich hämmerte so fest gegen die Tür, dass sie fast zerbrach. »Mach auf!«
Brookes Mom packte mich und zog mich zurück. Ich wollte sie wegschieben. »Sie verstehen das nicht, aber Brooke schwebt in Gefahr!«
Es klickte, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Ich sprang sofort wieder vor und zerrte ihre Mom hinter mir her. »Schon gut, Mom«, sagte Brooke durch die Lücke. Die Tür ging weiter auf, und nun sah ich sie. Dunkle Ringe unter den Augen, als hätte sie seit Tagen nicht mehr geschlafen, und sie bewegte sich langsam und steif wie ein Zombie. Reglos und mit offenem Mund stand ich da und starrte sie an.
»Nein.« Ich war zu spät gekommen.
»Du siehst schrecklich aus.« Ihre Mom ließ mich los und schob sich an mir vorbei auf Brooke zu. »Wie geht es dir? Ich rufe wohl besser den Arzt.«
»Schon gut, Mom, ich bin nur ein bisschen … müde. In ein paar Stunden geht es mir bestimmt besser.«
»Nein«, sagte ich noch einmal und taumelte gegen das Geländer. »Bitte, nein.«
»Was ist hier eigentlich los?«, fragte Brookes Mom.
»Nichts weiter, Mom«, sagte Brooke. »Er hat nur gehört, dass ich krank bin, und wollte nach mir sehen. Wenn er so reagiert, muss ich ja schlimm aussehen.« Sie lächelte verkrampft und
Weitere Kostenlose Bücher