Wells, ich will dich nicht töten
ganz da. Meistens erkenne ich recht gut, was in anderen Menschen vorgeht. Wenn ich ein Gesicht betrachte, dann kann ich oft erraten, was jemand denkt. Aber weiter geht es nicht. Ich erkenne, was die Menschen empfinden, weiß aber nicht, was ich selbst dazu empfinden soll. Du tust das Gleiche und bist außerdem noch in der Lage, dein Wissen sinnvoll einzusetzen.«
Marci lächelte, kam noch näher und fasste mich bei den Händen. »John Wayne Cleaver, du machst die seltsamsten Komplimente auf der Welt.«
»Du hast eine Empathie, wie ich es noch nie erlebt habe«, fuhr ich fort. »Du weißt genau, wie du mit den Menschen reden und eine Beziehung zu ihnen aufbauen musst. Vielleicht hältst du das für seltsam, weil es für dich so einfach ist, aber für jemanden wie mich ist es …« Wie sollte ich ihr erklären, was sie getan hatte?
»Jemand wie du, ja?«
»Genau.«
»Und was für ein Jemand bist du nun?«
Mit den Pumps war sie fast so groß wie ich, und als sie dicht vor mir stand, waren unsere Augen auf gleicher Höhe. Genau wie unsere Lippen. Unsere Nasen berührten sich fast. Ich blickte ihr tief in die Augen. Wollte sie wirklich wissen, wer ich war? Konnte ich es überhaupt wagen, sie einzuweihen?
Nein, ich wagte es nicht. Ich konnte es nicht. Aber wenn sie es nun selbst herausfand …
»Du bist hier das gesellschaftliche Genie.« Ich setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. »Sag du mir doch, was für ein Mensch ich bin.«
»Tja.« Sie lächelte. »Du bist klug, aber sehr wählerisch. Du konzentrierst dich auf die Themen, die dich interessieren, und lässt alles andere außer Acht.« Während sie sprach, bemerkte ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Es war kein einzelner Mensch, sondern eine Welle, die durch die Menge lief, außerdem wurden Stimmen laut, die sogar die Musik übertönten. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um mehr zu sehen. Auch Marci wandte sich um und runzelte die Stirn. »Du hast … was ist denn da los?«
Jemand rief etwas, die Worte konnte ich nicht verstehen. Unvermittelt brach die Musik ab, und in der plötzlich einsetzenden Stille stieß ein Mädchen einen schrillen Entsetzensruf aus.
»Lasst mich in Ruhe!«
Auf einmal brach das Chaos los. Auch andere Schüler schrien und wichen zur Wand zurück. Marci und ich wurden nach hinten gedrängt, der Getränketisch kippte krachend um, ein Schwarm verschreckter Tänzer lief darauf zu und konnte auf dem nassen Boden nur mühsam das Gleichgewicht halten. Nun waren wir anderen hinter dem Tisch eingeklemmt, obwohl einige verzweifelt zu fliehen versuchten … wovor eigentlich? Hinter uns stand ein alter Heizkörper. Ich kletterte hinauf, um mir einen Überblick zu verschaffen.
»Der Schrei klang nach Ashley«, erklärte Marci.
»Richtig.« Über die Köpfe der verängstigten Schüler hinweg entdeckte ich Ashley Ohrn, eine Mitschülerin, die mit fest geschlossenen Augen und hysterisch schluchzend quer durch den Saal taumelte. Über dem Satinkleid trug sie ein schwarzes Geschirr, in dessen Bändern sechs braune Klötze hingen. Es war ein Bild, das ich in Hunderten von Filmen gesehen hatte. Jetzt wurde es keine zwanzig Meter vor mir zur schrecklichen Realität. Es war C4 . Die Sprengstoffriegel waren durch bunte Drähte miteinander verbunden. »Sie hat eine Bombe am Körper.«
»Ashley«, rief jemand, »was hast du …«
»Redet nicht mit mir!«, kreischte sie. In zwei schmalen Schlangen flohen die ersten Schüler nach draußen, wir anderen steckten an der Wand fest und bildeten einen weiten Kreis des Schreckens, durch dessen Mitte Ashley stolperte. »Kommt mir nicht zu nahe!«
»Was ist da los?«, fragte Marci.
»Sie ist meinetwegen hier«, flüsterte ich. Niemand war hier, doch sie wusste nicht, wer ich war. Sie hatte den Kreis der Verdächtigen eingeengt und suchte einen Jugendlichen, aber keinen bestimmten. Sie hatte Ashleys und nicht Officer Jensens Körper gestohlen und eine Bombe gebaut, die groß genug war, um alle Jugendlichen der Stadt zu töten.
Inzwischen stand Ashley mitten im Raum und schluchzte haltlos. Marci packte mich am Arm und stieg neben mir auf den Heizkörper. Sie schwankte einen Moment lang, ehe sie das Gleichgewicht zurückgewann.
»Sie will es wirklich tun.«
»Sie hat Angst«, sagte Marci. »Wenn das eine Bombe ist, dann hat sie sich die nicht selbst umgebunden.«
Ich blickte zur Tür, hinaus in die schwarze Nacht. Marci hatte recht, Ashley war keine Mörderin, sondern nur eine Spielfigur. Irgendwo
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