Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
Schnelligkeit nicht verlor. Jerome träumte Tag und Nacht von ihr.
Sie hatte von ihm erwartet, daß er bei der Baccalaureats-Feier, stände er nur erst am Rednerpult, nicht den schriftlich vorgegebenen Text verlesen, sondern frei und offen etwas ganz anderes sagen werde. Während er ablas, hatte er auch darum die Augen nicht gehoben, weil er Julia nicht ins Gesicht sehen mochte. Sie hatte sich dann an Ken gehalten, den Mann des schrankenlosen Zorns, der etwas geheimgehaltenes Großes plante. Vielleicht wußte Tatokala auch davon. Vielleicht hatte sie die Hoffnung auf das große Ziel mit Ken getanzt, obgleich sie nur den Hühnerschritt mit ihm zusammen zu gehen hatte, die kleinen wirbelnden Schritte, durch die die Freude zitterte. Später, im Kriegstanz, hatte sich gezeigt, daß hier einer war, der kämpfen wollte, koste es, was es wolle, und Jerome hatte in Tatokalas Zügen das gläubige Vertrauen auf den Kampferfolg gelesen, das ihm selbst fehlte.
Julia Tatokala schien sehr weit entfernt von ihm, fern wie die Sonne, die lockend am Horizont stand und die der Mensch doch nie erreichen konnte, so lange und unermüdlich er auch dorthin laufen mochte. Aber die gleiche Tatokala ging wunderbarerweise an seiner Seite, zum Greifen nahe und doch nicht begreiflich.
Nicht er war es gewesen, der sich neben sie drängte, sie hatte ihn gerufen. Er sagte kein Wort, stellte keine Frage und dachte nicht einmal eine Bitte. Als sie beide lange über die Prärie gelaufen waren, dahin und dorthin, und ihre Gefährten nur noch wie kleine Punkte bei Melittas Haus erkannten, machte Julia halt und ließ sich nieder.
Jerome blieb bei ihr stehen.
»Liebst du mich?« fragte sie ihn.
»Ja.«
Was sollte er sonst sagen, es war eine einfache Antwort auf eine einfache Frage. Aber während Jerome das Ja aussprach, stockte alles in ihm, auch jeder Gedanke, eingepreßt in eine nicht aussprechbare, kaum ausdenkbare Erwartung.
»Ich aber liebe dich nicht, Jerome. Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, ich liebe dich.«
»Ich weiß.« Der Verzicht nahm wieder Besitz von dem jungen Mann, und er fiel tief wie vom Himmel auf die Erde.
»Aber es ist etwas da, warum ich mit dir sprechen muß.«
»Sprich, Tatokala.« Jerome sagte es höflich, abwesend von sich selbst.
»Setz dich zu mir.«
Jerome hockte sich ins Gras, eine Armlänge entfernt von dem Mädchen.
»Jerome, wir sind in einer Klasse gewesen, und wir werden hier zusammen arbeiten. Wir wünschen immer dasselbe und wollen es doch immer auf eine ganz andere Weise tun. Ich bin zornig auf dich, wenn du so still und gleichmäßig gehst, ich möchte dich wecken und stoßen, aber ich weiß nun schon, es gelingt mir nicht. Manchmal habe ich Sehnsucht und möchte so sein, wie du bist. Das kann ich wiederum nicht.«
»Wirst du nicht zu Ken gehen?«
Tatokala stieß mit dem Fuß gegen ein Grasbüschel.
»Ich werde nicht zu Ken gehen, du verstehst wieder einmal gar nichts, Jerome. Ken hat einen großen Plan, einen gewaltigen Plan. Wenn ich davon träume, bin ich selig. Das ist etwas anderes als Liebe, als Tipi und als Kinder. Es ist der Kriegspfad, den auch Frauen gehen werden.«
»So denkst du, Tatokala.«
»Verstehst du mich jetzt? Aber der Kampf ist da, um etwas zu beschützen. Es muß etwas dasein, was wir zu verteidigen haben.«
»Unser Stamm, unsere Kinder, unsere eigenen Gedanken, der eigene Weg unseres Lebens.«
»Ja, Jerome. Und ich mag nicht darauf verzichten, daran teilzuhaben. Ich will hier sein, Tochter des Tipi und einmal Mutter des Tipi, und ich will draußen sein, wo der Kriegspfad beschritten wird. Es reißt mich her und hin, und manchmal denke ich, es zerreißt mich.«
»Dich, Tatokala? Du bist so sicher. So sicher, daß du mit anderen spielen kannst.«
»Ich spiele mit euch, damit ihr mich alle für sicher haltet. Ich bin es aber nicht. Jerome. Es ist viel, daß ich dir das gesagt habe.«
»Ich schweige.«
»Hugh Wasescha hat Cora Magasapa gefunden. Weißt du etwas von dieser Frau? Ihr alle habt geglaubt, daß sie zerbrechlich ist und von einem Geheimnis gefangen sei. Ja, auch ich habe so gedacht. Aber nun zerreißt sie ihre Geheimnisfesseln. Hast du sie den Schecken reiten sehen, und hast du sie rufen und schreien hören? Das war die schwarze Wildgans. Sieben Jahre hat Wasescha gewartet, bis sie wieder sie selbst wurde. Er ist ein starker junger Mann und hat eine junge große Frau gefunden. Manchmal werden sie sich streiten, das glaube ich gewiß. Dennoch sind sie in
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