Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg

Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg

Titel: Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
Vom Netzwerk:
welche Straße sie gegangen ist.«
    »Es ist aber gut so. Ein einziges Mal war es uns gegeben, uns zu verwandeln.«
    Irene Oiseda war wieder jünger geworden; aus ihrer Schwermut heraus lächelte sie, und sie war entschlossen, allen Registern und Identifikationen und aller Wissenschaft der weißen Männer zu trotzdem und ihnen zu sagen, daß Kte Waknwan der Sohn Kte Waknwans sei. Sie würden dann eintragen: »Vater unbekannt.«
    Die Sterne waren unterdessen verschwunden, und das Geziefer und die Schlangen in der Wiese erwachten. Die Pferde in der Koppel warteten, ob ihre Reiter kommen würden. Im gelben Haus, in der Blockhütte und im großen Zelt rührte es sich.
    Der Kalender der weißen Männer sagte, es sei Montag. Hugh, Jerome, Norris, Tatokala, Wakiya, Hanska, die Zwillinge rüsteten sich für den Schulweg. Hugh nahm Wakiya in seinem Wagen mit; die andern brachen früher auf und liefen den Weg zum Schulbus wieder zu Fuß. Tashina fuhr Oiseda und die beiden Lehrlinge zur Agentursiedlung.
    Nach dem Wochenende zweier freier Tage war der Montag stets ein neuer Eingewöhntag für die Schüler. In dieser Woche war er es auch für Hugh Wasescha Mahan. Er hatte an einem Kreuzweg gestanden und seine Richtung eingeschlagen. Die meisten Kollegen, die ihm begegneten, behandelten ihn auf Abstand mit Achtung. Wyman ließ sich nicht sehen. Die junge Lehrerin, Schwarzamerikanerin, suchte eine Möglichkeit, Mahan unbeobachtet zu sprechen, doch fand sich keine Gelegenheit. Ron Warrior war übersprudelnd aufgelegt; er lud Hugh für den Abend zu sich ein und ließ dabei die Falten seiner Augenwinkel spielen, was ohne Zweifel eine pikante Überraschung bedeuten sollte.
    Um zehn Uhr begann die Literaturstunde in der zwölften Klasse. Die 3. Tagesschule der Reservation war nach kümmerlichen Anfängen eine zwölfklassige Schule für alle Schüler geworden, die dieses Schulziel zu erreichen vermochten, Stolz der Lehrerschaft und eines Teils der Eltern. Zugleich war sie ein Krisenherd, der seit zwanzig Jahren die Aufmerksamkeit hoher Stellen auf sich gezogen hatte. Die frühzeitigen Abgänge hatten die Schülerzahl der Oberklassen stark vermindert. Es gab in den höheren Graden keine Parallelklassen mehr, sondern nur eine zwölfte Klasse mit sechzehn Schülern; und auch darin glich die Reservationsschule vielen Schulen außerhalb, denjenigen, die in den Armenvierteln lagen.
    Hugh Mahan begab sich auf die Minute pünktlich in den Klassenraum. Er trug heute seine graue Hose mit Bügelfalte und ein weißes Hemd mit Krawatte, das schwarze Haar hatte er glatt in den Nacken gestrichen. Seine Schülerschaft teilte sich in zehn Mädchen und sechs Jungen. Jeder Schüler hatte seinen Stuhl und Tisch für sich, in ausgerichteten Reihen vor dem Lehrerpult aufgestellt.
    Julia Bedford und Jerome Patton saßen als Nachbarn in der dritten Reihe, Mitte.
    Die Schüler hatten sich wieder gesetzt; ihre Augen waren auf den Lehrer gerichtet.
    Die Tür tat sich noch einmal auf, Rektor Snider erschien mit dem Klassenlehrer Cargill zusammen.
    »Bitte, lassen Sie sich gar nicht stören.«
    Die beiden Hospitanten nahmen sich freie Stühle und setzten sich in den Hintergrund. Die Haltung der Schüler versteifte sich sichtlich. Sie empfanden Snider und selbst Cargill wie zwei Feinde im Rücken, denn auch Cargill war ja nicht gekommen, um zu unterrichten, sondern um zu horchen.
    »Das Thema unserer gemeinschaftlichen Arbeit«, sagte Mahan zu den Schülern, die vor ihm saßen, jungen Erwachsenen von 18 bis 21 Jahren, »unser Thema ist die amerikanische Literatur der Gegenwart. Ich möchte einleitend mit Ihnen darüber sprechen, warum wir als Indianer amerikanische Literatur lesen – ich denke, wir müssen uns über die Grundlage unserer Arbeit klar sein, wenn sie zu etwas führen soll.«
    Mahan hatte erwartet, daß Rektor Snider die Lippen einziehen und die Stirn runzeln und daß Cargills Augen Verwunderung ausdrücken würden; das trat ein.
    Die Schüler verrieten sich nicht.
    »Kennen Sie dieses Buch?« Mahan hielt es in die Höhe. »Es hat einen hohen Literaturpreis erhalten. Ein weißer Amerikaner schreibt über uns indianische Amerikaner. Das Schicksal eines Utah hat ihm keine Ruhe gelassen; er versuchte, den Weg nachzugehen, den dieser gegangen war. Das Buch heißt ›Die alten Lieder sind verklungen‹.« Julia schürzte spöttisch die Lippen. Mahan hatte nicht die Absicht, sie als erste zu einer Meinungsäußerung aufzurufen. Er wählte einen Burschen aus,

Weitere Kostenlose Bücher