Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
zerstörte Kultur, ein Haufen verschleppter Menschen – und eine neue Kultur im Aufbau. Warum sollen in unserem Amerika nicht einige Nationen miteinander leben, ohne einander zu terrorisieren?«
»Miss Sunday«, schrie Clyde, »Sie kennen meinen Vater und seine Freunde nicht, und darum kennen Sie nicht Amerika! Er repräsentiert die schweigende Mehrheit, die nicht mit dem Munde spricht, sondern mit den Mündungen der Gewehre.«
»Ich stamme aus Alabama, Mister Clyde.«
»Und Sie haben noch Illusionen? Wem ist denn hier überhaupt noch zu helfen?«
»Vielleicht dir, Clyde«, sagte Lawrence.
»Also gut, mir. Aber wie? Sie sind alle zusammen abhängig von Papas Geld – von dem Geld, über das er regiert. Sie brauchen eine Schule, einen Supermarket, Straßen, Jobs – und dafür gehen sie betteln bei Papa. Wann werden sie endlich ihre verdammten Bedürfnisse ablegen, die sie zu Sklaven machen?«
»Nicht so, Clyde«, widersprach Mahan. »Wann wird man uns endlich erlauben, selbst über unser Geld zu verfügen, über unser Land und über unsere Kinder? Ohne Bedürfnisse bleiben wir der Zoologische Garten der weißen Amerikaner. Wir müssen aber ihre Erzieher werden, sonst gehen wir unter – mit ihnen zusammen.«
»Da haben Sie sich etwas vorgenommen. Sagen Sie das mal meinem Dad.«
»Ich werde kaum mehr die Gelegenheit dazu erhalten. Als ich das erste und wahrscheinlich einzige Mal vor ihm stand, habe ich leider noch zuviel geschwiegen.«
Man begab sich von der Tischecke wieder in den großen Raum und rückte die leichten Sessel zusammen.
»Meine Damen und Herren«, sprach Lawrence wie ein Dozent, »sind Sie sich bewußt, daß Sie den Mythos Amerika und damit einen Mythos der Menschheit zerstören? Engländer, Deutsche, Holländer, Schweden, Dänen, Norweger, Franzosen, Italiener, Russen sind gekommen und haben eine unabhängige, unteilbare Nation gebildet – den großen Schmelztiegel, Vorbild der Weltnation und einer Weltsprache. Nun kommen Sie und wollen wieder alles auseinanderreißen in Weißamerikaner, Schwarzamerikaner, Rotamerikaner, Spanischamerikaner, in verschiedene Sprachen und verschiedene Kulturen. Halten Sie das für einen Fortschritt?«
»Sie machen nur einen Fehler dabei, Lawrence«, sagte Ron, »Sie vergessen: Das Auseinanderreißen haben Sie selbst, und zwar gründlich, besorgt. Die Schwarzamerikaner waren Ihre Sklaven, die Rotamerikaner waren Ihre Wilden, die Sie schließlich der Forstverwaltung unterstellt haben – und was mit unseren Wäldern geschah, das wissen Sie –, die Spanischamerikaner haben Sie annektiert und diskriminiert – und auf diesen Leichenfeldern ist Ihr Mythos entstanden. Sie müssen sich einen neuen einfallen lassen. Und zwar bald! Sonst reift ein Untergrund-Amerika.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Von welchem Fach aus gehen Sie an die Probleme heran?«
»Ökonomie. Wir haben unsere arbeitende Klasse integriert…«
»Welche? Und für wie lange?«
»Die Studenten integrieren sich von selbst, sobald sie einen Job haben.«
»Und wachsen jedes Jahr neu nach.«
»Ich gebe ja zu, daß die Probleme schwierig sind. Aber die Phantasien unserer Geheimdienstchefs über die bestehenden Gefahren erscheinen mir absurd. Es geht alles vorüber. Auch die Hippies haben ihren Höhepunkt überschritten.«
»Weil ihr mit Blumen nicht zu heilen seid!« schrie Clyde. »Aber wenn etwas vorübergehen wird, so sind es deine Ansichten aus dem Jahre 1776!«
»Wir werden sehen.«
»Ja, bis du Großvater bist, werden wir gesehen haben. Die Polarisation ist nicht mehr aufzuheben.«
Mahan hatte die Sprechenden mit den Augen verfolgt und auf ihre Tonart aufmerksam gelauscht. Es war etwas Neues da, wenn auch noch unsicher und zerspalten.
»Mein Dad wütet, und ihr werdet erleben, daß er es mit seinen Mac Leans zusammen noch zum Blutvergießen bringt. Dann wacht ihr endlich auf!« prophezeite Clyde. »Er ist nicht mein Komplex, er ist der Typ, der unser Land ruiniert. Setze deine Brille ab, Lawrence, und schaue dir die Wirklichkeiten an.«
»Ich bin ja darum bemüht, Clyde. Aber vorläufig machen noch die Erdölindustrie, die Stahlwerke und die Automobilindustrie Geschichte und nicht die Schwarz-, Rot- und Spanischamerikaner.«
»Du kannst doch deinen Hochmut nicht ausziehen, Lawrence, er ist kein Kleid mehr von dir, er ist deine Haut geworden.«
»Waren Sie schon einmal außerhalb der Reservation?« fragte Lawrence Mahan. »Haben Sie etwas von unseren Städten und unserer
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