Welt Der Elben (1-3)
»Lass ihn vorgehen«, flüsterte er. »Du kannst ihm vertrauen. Er hat Gaben. Wie sein Vater. Er hat sich bisher nur geweigert, sie einzusetzen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Lynn sagt das.«
»Wie kommt es, dass mich das kein Stück beruhigt?«, zischte Heather.
Moryn drehte den Kopf und blickte über die Schulter zurück. »Ruhe«, herrschte er sie an. »Ich muss hören können, wenn die Felsen ächzen.«
Der Weg blieb rutschig und schließlich bildeten sie eine Kette, damit sie nicht stürzten. Mit einer Hand hielt Heather Moryns Hand, mit der anderen Zalyms. Moryns Händedruck war viel fester als Zalyms. Moryn presste ihre Hand so fest in seine, dass es beinahe schmerzte. Aber das war in Ordnung, denn zweimal verhinderte er, dass sie auf dem rutschigen, scharfkantigen Gestein ausrutschte.
Schweigend liefen sie durch den Tunnel.
»Was meint ihr? Wird der Ausgang bewacht sein?«, fragte Zalym, als das Ende des Tunnels in Sichtweite kam. Seine Stimme hallte wie in einem Schwimmbad.
»Ich glaub nicht!«, sagte Tessya. »Nicht hier! Sie rechnen sicher nicht damit, dass wir am stillgelegten Tunnel rauskommen.«
»Glaub ich doch!«, entgegnete Moryn. »Ich kenn doch meinen Vater!«
56 Du entscheidest!
A m Tunnelausgang stand ein Wächter. »Ihr werdet überall gesucht!«, sagte er leise und sah sich dabei um. »Moryn, dein Vater ist außer sich vor Sorge und Zorn. So wütend habe ich ihn noch nie erlebt. Hier herrscht Ausnahmezustand, weil ihr gestern Abend nicht wie erwartet zurückgekommen seid.«
»Wir hatten noch etwas zu erledigen«, brummte Moryn.
Der Wächter blinzelte ihn an. »Was hast du eigentlich mit deinen Haaren gemacht?«
Moryns griff sich durch die fransige Mähne. »Du hast bestimmt schon gehört, dass wir von einem Zeemu gejagt worden sind?«, sagte er mit undurchdringlicher Miene.
»Ja, und?«
»Nun, er wollte meinen Kopf. Da hab’ ich ihm die Haare gelassen.«
Heather starrte ihn an. Der Kerl erzählte Lügengeschichten, dass sich die Balken bogen und der Wächter glaubte ihm.
Sie sah wie Zalym sich schnell weggedrehte und erhaschte einen Blick auf seinen Gesichtsausdruck. Er konnte auf mindestens hundert verschiedene Arten lächeln – und es bedeutete jedes Mal etwas anderes.
Der Wächter verschränkte die Arme. »Bis zum nächsten Wachwechsel kann ich verheimlichen, dass ihr hier vorbei seid. Ich sag einfach, mir wäre nicht klar gewesen, dass ich sofort Meldung machen müsste. Sie werden einsehen, alleine hätte ich euch sowieso nicht aufhalten können.«
Sie nickten und schlichen weiter durch den Elbenwald. Über ihren Köpfen flog eine Krähe. »Krah-krah-krah«, rief sie.
»Da ist Aryxella!«, rief Tessya und zeigte nach oben.
Die Krähe flog über den Wipfeln Richtung Siedlung.
»Sie wird uns verraten!«
»Dein Lärm wird uns verraten!«, knurrte Moryn.
»Wir nehmen Torbaum Neun, ja?«, flüsterte Zalym. »Bei Baum Acht werden sie versuchen uns abzufangen, weil der näher an Frankfurt ranführt.« Er zeigte in die entsprechende Richtung.
»Warum nicht Nummer Drei? Der führt noch viel dichter an Königstein ran«, widersprach Moryn und hielt Zalyms Arm fest. »Ich bin für Nummer Drei. Das spart uns wertvolle Zeit.« Seine Stimme klang entschieden. Doch Heather bemerkte, dass er zwischendurch schluckte.
»Baum Drei?« Tessya schüttelte den Kopf. »Das ist so dicht an unserer Siedlung, da wird es vor Wachen nur so wimmeln.«
»Eben darum. Alle denken wie du, und deshalb werden sie die anderen Bäume bewachen. Heather? Du entscheidest!«, sagte er. Er machte einen Schritt auf sie zu und sah ihr eindringlich in die Augen.
»Drei!«, sagte sie und hielt seinem Blick stand. Er senkte den Blick. Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ich vertrau dir. Für dieses Mal«, flüsterte sie.
Damit war es entschieden. Sie rannten lautlos zwischen den Bäumen hindurch. Selbst Heather erinnerte sich an die Unterrichtsstunde von Tessya. Nur einmal trat sie auf einen Ast. KNACKS! Vor Schreck blieb sie stehen. Mist, verdammter!
Moryn blickte sich um. »Weiter!«, zischte er.
57 Vertrau mir!
M oryn war verwirrt. Ich vertrau dir , hatte sie gesagt, ein Satz der bei ihm eine Seite zum Klingen brachte. Hätte sein Vater nur ein einziges Mal diesen Satz über seine Lippen gebracht, dann … Ja, was wäre dann? Alles anders? Er ein anderer? Nachdenken wollte er darüber. Am liebsten jetzt! Aber er hatte keine Zeit dazu. Er musste ihr zeigen,
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