WELTEN-NEBEL
wegen der Unmengen an losem Gestein, das sich bei jedem Schritt löste und polternd ins Tal hinabstürzte. Mehrmals glitt sie aus und wäre ebenfalls fast den Hang hinabgefallen. Ihre Knie und Hände wiesen zahlreiche Schrammen auf, als sie endlich ein kleines Plateau erreichten, an dem sie kurz rasten konnten.
Waylen versuchte, sich einen Überblick über das Gelände zu verschaffen, um zu entscheiden, wie sie weitergehen sollten. Zunächst aber konnte er keinen geeigneten Weg ausmachen. Waren sie fehlgegangen, war dieses Tal womöglich eine Sackgasse gewesen? Würde er Ihel eröffnen müssen, dass sie den ganzen Weg der letzten drei Tage noch einmal in die andere Richtung würden laufen müssen. Bei den Göttern, das durfte nicht wahr sein. Er schaute sich noch einmal aufmerksam um. Da entdeckte er ihn, jenen schmalen Steg, der vom Plateau weg die Felswand entlangführte. So weit er konnte, folgte er ihm mit den Augen. Die Steigung war mäßig und der Pfad breit genug, um ohne Angst vor einem Absturz darauf gehen zu können. Nur wo er hinführte, konnte er nicht herausfinden.
Er machte Ihel darauf aufmerksam und sagte: „Es ist ein Risiko. Sollen wir es eingehen?“
„ Lass mich kurz überlegen.“
Sie betete still, hoffte auf eine Antwort der Götter, denn sie konnte sich nicht zu einer Entscheidung durchringen. Doch das erhoffte Zeichen der Götter blieb aus. Sie würde einzig ihrem Gefühl vertrauen müssen. Allen Mut zusammennehmend, blickte sie Waylen direkt in die Augen und sagte: „Lass es uns versuchen.“
Um es sich nicht doch noch anders zu überlegen, setzte sie sogleich ihren Fuß auf den Weg. Mit jedem Schritt, den sie tat, wuchs ihre Gewissheit, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Die Nacht auf dem schmalen Steg würde ein Abenteuer werden, sie wagte kaum, die Augen zu schließen, kauerte dicht an der Felswand. Sie wusste, eine unbedachte Bewegung würde sie abstürzen lassen. Doch sie hatten keine breitere Stelle finden können und so saß sie nun dort und zitterte vor Angst.
War ihr kalt oder fürchtete sie sich. Waylen vermutete, dass es Letzteres war, das Ihel zum Erbeben brachte. Sie hatte wohl Angst, abzustürzen. Dabei hatte sie den ganzen Weg über nicht eine Spur von Höhenangst gezeigt. Doch nun war es dunkel, das verändert offenbar alles. Er rückte dichter an sie heran, griff nach ihrer Hand. „Versuch zu schlafen. Ich halte dich fest.“
Er wusste nicht, ob es seine beruhigenden Worte waren oder die Erschöpfung, die sie schließlich einschlafen ließ, doch die Hauptsache war, dass sie Kraft für den nächsten Tag schöpfte. Er aber hielt sein Versprechen, blieb die ganze Nacht wach und hielt ihre Hand.
Ihr Mut wurde belohnt. Nachdem sie dem Pfad am nächsten Tag noch ein ganzes Stück durch die zerklüftete Berglandschaft gefolgt waren, hatte sich ganz plötzlich und unerwartet ein Tal vor ihnen aufgetan. Noch vor Einbruch der Nacht gelang ihnen der Abstieg. Vollkommen erschöpft ließ er sich ins Gras fallen, die schlaflose Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen, nun konnte er sich endlich ausruhen. Selbst der Hunger, der ihn den ganzen Tag über gequält hatte, war nicht so schlimm, als dass er den Schlaf hätte besiegen können.
Drei Tage folgten sie dem Tal nun schon. Es führte sie geradewegs nach Süden. Waylen hatte hier täglich mehrere kleine Tiere fangen können, sodass sie nicht länger Hunger leiden mussten, und Wasser floss reichlich die Hänge hinab, erst recht, nachdem der zweite Tag in diesem Tal ein verregneter gewesen war.
Sie hielt gerade Ausschau nach einem geeigneten Platz für die Nacht, als sich das Tal nach einem kleinen Knick plötzlich und unerwartet öffnete und den Blick auf eine riesige Ebene freigab. Sie hatten es geschafft, sie hatten die nördliche Bergkette durchquert. Nun lag die Wüste vor ihnen. Nichts als flaches Land, soweit die Augen zu blicken vermochten. Waylen trat hinter sie und sagte: „Ich wusste, dass wir es schaffen würden.“
„ Danke, dass du mich dazu überredet hast.“
„ Ich habe dich nicht überredet, sondern dir nur geholfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.“
„ Du kannst es nennen, wie du willst, trotzdem bin ich dir dankbar.“
An ihn gelehnt genoss sie noch einige Zeit den überwältigenden Anblick der Wüste.
Mond 5 Jahr 3737
Frühling
Nördlicher Rand der Zentralwüste, Helwa
Der neue Tag brachte neue Entscheidungen mit sich, Entscheidungen, auf
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