Welten - Roman
sprach nie über ihren Vater, aber das hatte sie auch vorher nur selten getan.
Eines Tages hatten wir beide Zeit und lagen in meiner Wohnung im Bett.
»Weißt du noch?« Sie zog eine Packung Sugar Cherrys aus ihrer Tasche. »Hab ich bei einer Jungpfadfinderin konfisziert.« Sie steckte mir eins in den Mund, dann sich selbst. Eine Weile kauten wir geräuschvoll.
Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich zuletzt so ein Bonbon gegessen hatte. »Früher habe ich die geliebt«, sagte ich.
Plötzlich hörte sie auf zu kauen und setzte sich auf. Ihr Gesicht wirkte leer. Mit einer Hand strich sie über die alten Narben auf dem Unterarm. Sie stand auf und nahm den klebrigen Brei, der von ihrem Sugar Cherry übrig war, aus dem Mund, um ihn in den Abfalleimer zu werfen. Dann zog sie sich an.
Ich fragte sie, was los war.
Sie schüttelte nur wortlos den Kopf. Es war nicht zu übersehen, dass sie weinte. Mehrmals fragte ich sie, was sie hatte, aber sie würdigte mich keiner Antwort und verließ kurz darauf die Wohnung.
Danach schliefen wir nie mehr miteinander, und sie weigerte sich, eine echte Unterhaltung mit mir zu führen. Sie ignorierte mich zwar nicht völlig, behandelte mich aber mit großer Kälte.
Noch vor zwei oder drei Jahren hätte ich mit aufrichtiger Ratlosigkeit bekennen müssen, dass ich nie verstanden habe, warum das geschehen ist, warum sie mit mir Schluss gemacht hat. Doch inzwischen glaube ich den Grund zu kennen: Ein erinnerter Geschmack hatte mich verraten.
(Nein, ich will ganz ehrlich sein: Ein erinnerter Geschmack hatte meinen Verrat offenkundig gemacht.) Wenn man bedenkt, was ich alles gesehen und getan habe, so ist es bemerkenswert, dass es dies ist - eine kleine, unbedeutende Sache, die viele Jahre zurückliegt und noch vor dem eigentlichen Beginn unserer Beziehung geschah -, was mir die Schamröte ins Gesicht treibt, wenn ich daran denke. Ich habe Dinge getan, für die sich die meisten Menschen schämen würden, und Taten beobachtet, für die ich mich schämen würde, doch es war der Diebstahl dieses einen Bonbons - und vielleicht nicht einmal er selbst, sondern dass ich mich weder zu dieser kleinen Verfehlung noch zu der Tatsache bekannt hatte, auch ihre Spitzerklinge entwendet zu haben -, der letztlich dazu führte, dass ich verurteilt wurde und mich noch heute beschmutzt fühle.
Noch im selben Jahr ging ich zur Armee und wurde ins Ausland versetzt, wo ich nach langer Ausbildung zum Militärpolizisten wurde. Das Schwierigste war das Bestehen der psychologischen Prüfung. Sie wollten bei der Truppe keine Leute, die etwas wie ich getan hatten, damals zumindest noch nicht, aber ich war schlau genug, um zu erkennen, worauf es ihnen ankam, und erzählte ihnen, was sie erwarteten. Das Insiderwissen um die Funktionsweise dieses Prozesses ist selbst ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit. Schon damals lernte ich also dazu, um meine Fähigkeiten zu vervollkommnen.
ACHT
PATIENT 8262
Die meisten Welten sind geschlossen , nur wenige sind offen . Die meisten Menschen sind nicht wach , nur wenige sind wach. Eine offene Welt ist eine, in der die überwiegende Zahl der Leute wach ist und das Wechseln zwischen den Welten nicht verborgen werden muss. Das, wo ich zurzeit in einem Klinikbett liege, ist eine geschlossene Welt, eine Realität, in der vielleicht niemand außer mir weiß, dass die vielen Welten existieren, dass sie sogar miteinander verbunden und Reisen zwischen ihnen möglich sind. Das kommt meinen Absichten sehr entgegen. Genau das wollte ich, als ich hierherkam. Es ist mein Schutz.
Als ich die Augen aufschlage, sitzt der fette Glatzkopf da und starrt mich an; der Mann mit der schlechten Haut, der sich bei meinen seltenen Besuchen im Fernsehzimmer immer neben mich setzt und in seinem unverständlichen Dialekt unaufhörlich auf mich einredet.
Draußen herrscht Nebel, und zum ersten Mal in diesem Jahr spüre ich die Kälte, obwohl mir in meinem Bett immer noch warm ist. Der Dicke trägt den gleichen weißblauen Schlafanzug wie wir alle, dazu einen verschossenen blauen Morgenmantel, der schon einmal bessere Tage gesehen hat. Er spricht mit mir. Es ist mittlerer Vormittag, und wie üblich um diese Zeit steht auf meinem Nachttisch ein Becher Fruchtsaft. Ich habe nicht mitbekommen, dass ihn der Wärter hingestellt hat.
Der Glatzkopf plaudert angeregt mit mir, als erwartete er, dass ich ihn verstehe. Möglicherweise strengt er sich sogar
besonders für mich an, denn ich habe den Eindruck,
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