WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
die Federn im Feuer. Er zog weite Kreise über der Stelle, an der Jeromya verschwunden war, aber außer seinen gewaltigen Flügelschlägen war nichts zu hören.
Er wartete.
Und wartete.
Und auch Elsa wusste, dass Jeromya früher oder später würde auf-tauchen müssen. Aber ihr schwanden die Kräfte, und ihre Hand wurde schwer wie ein Amboss. Verkrampft ließ sie den Bleistift auf das Buch fallen und schüttelte ihr Handgelenk aus, kurz bevor die Kerzen auf ihrem Schreibtisch zu flackern begannen.
Elsa rannte panisch zum Fenster. Vielleicht war Jeromya doch schon irgendwo zu sehen. Der Vollmond spendete sein Licht, aber nur den Umrissen der Bäume und dem pulsierenden Brei des Sumpfes. Darüber kreiste ein glühender Ball.
Nicht die Sonne, sondern der Tod.
„Oh, Jeromya!“, weinte Elsa und schlug gegen das Fenster. Sie fühlte sich plötzlich unheimlich erschöpft. Wie lange durfte sie ihren Gelieb-ten da draußen noch die Luft anhalten lassen?
Eine Minute?
Zwei?
Danach schlüge in jedem Fall die Stunde des Falken.
Wenn Elsa die Geschichte nicht umschrieb.
Sie setzte sich wieder an ihren Platz und sie nahm den Bleistift auf.
Gab es eine Möglichkeit, den Falken zu töten?
Elsa klopfte unruhig mit dem Bleistiftende gegen die Schreibtischkante, und jeder Schlag maß genau eine Sekunde. Eine der Kerzen brannte nieder bis auf den Boden. Als Elsa den aufsteigenden Rauch beobach-tete, kam ihr ein Gedanke. Sie blätterte zwei Seiten zurück und las:
Einen Augenblick lang stand Jeromya selbstvergessen davor und genoss die medita-tive Wirkung des leisen Rauschens der Wä lder, während die illuminierten Abge-sandten des Himmels in den Wogen des Wassers ertranken.
Durch die schweren Nebelschwaden, die über die Wasseroberfläche zogen, drang das Krächzen eines großen Vogels an sein Ohr.
Wo war der Nebel?
Hatte sie den Nebel vergessen?
Sie sprang auf und eilte noch einmal ans Fenster. Die Nacht war glas-klar. Also hatte sie den Nebel vergessen!
Elsa durfte an dem, was geschrieben war, keine Änderungen vorneh-men, aber Ergänzungen waren erlaubt. Sie musste eine geeignete Stelle finden, an der sich ein Hinweis über die Wetterbedingungen einfügen ließ. Elsa blätterte eine Seite zurück: Im selben Moment verwandelte sich der See in eine moorige Lache vor sich hinköchelnden Schimmels, und der sich darin spiegelnde Mond bekam hässliche Pocken. Sie platzten der Reihe nach auf und enstellten ihn bis zur Unkenntlichkeit.
„Hier“, dachte sie und schrieb Der Nebel verdichtete sich hinter den Satz. Hastig blätterte sie wieder eine Seite vor.
Es war höchste Zeit.
Jeromya hielt die Augen geschlossen und schwamm blindlings gerade-aus. Seine Lungenflügel zogen sich krampfend zusammen, sein Herz-schlag beschleunigte sich weiter und weiter. Er würde seinen Atem nicht mehr lange anhalten können.
„Einen Zug noch“, dachte Jeromya.
„Noch einen.“ Er schob sich nach vorn und unterdrückte die in ihm aufkeimende Panik.
„Noch einen.“ Es gelang ihm, bei Bewusstsein zu bleiben.
Wie weit bis zur Wasseroberfläche?
„Noch ...“ Der Zeitpunkt war gekommen. Jeromya musste entscheiden, ob er sich dem Falken zum Fraß vorwarf oder lieber ertrank.
Er kämpfte sich nach oben, spuckte einen Schwall modrigen Abfalls von sich und ließ die Lungen tanken. Gierig verschlang er die frische Energie, während seine Gedanken wie wild gewordene Ratten gegen seinen Kopf trommelten. Jeden Augenblick könnte ihn der Falke grei-fen. Wann?
Jeromya blinzelte, und es gelang ihm, sich ein stark verschwommenes Bild vor die Augen zu holen. Dampf?
Aber kalter.
„Nebel!“, dachte Jeromya und schöpfte Hoffnung.
Vielleicht würde er dem Falken doch entkommen.
Wenn er es bis ans Ufer schaffte, müsste er ein letztes Mal noch alle Kräfte mobilisieren und in einem irrsinnigen Akt bis zur Villa spurten. Er würde Haken schlagen wie ein Hase.
Er konnte es schaffen!
Vorsichtig kraulte sich Jeromya nun durch seinen Sumpf der Verdammnis , auf dem in steter Regelmäßigkeit kleine Bläschen aufplatzten und ver-pufften.
„Er muss es bis ans Ufer schaffen. Er muss einfach!“, schrie Elsa.
Die Geschichte schrieb sich nun in einem Tempo von selbst, dass sie kaum noch eingreifen konnte. Elsa wusste nicht mehr, wann das Buch damit angefangen hatte, aber sie war sich zumindest sicher, dass der erste Satz ihr gehört hatte.
Dies ist die Geschichte eines Jungen, der ein Mädchen liebt.
Elsa hatte es vor Jahren auf
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