Weltraumzirkus d'Alembert 6-10 - Letzter Einsatz
Lösung einfiel. Ganz einfach, das Mädchen mußte hier geboren worden sein.
Gastonia war vor hundertfünfzig Jahren von Verbannten besiedelt worden. Unter ihnen hatte es viele junge, im gebärfähigen Alter stehende Leute gegeben. Da war es nur natürlich, daß die Verbannten zu Vorfahren einer eigenen eingeborenen Bevölkerung wurden. Die hier geborenen Kinder hatten nie eine andere Welt kennengelernt. Hätten sie und Jules den Rest ihres Lebens hier wirklich als Verbannte verbringen müssen, dann hätten sie hier sicher einige Kinder in die Welt gesetzt. Die Vorstellung erschien ihr nur deswegen so unwahrscheinlich, weil das Imperium in Gastonia nur einen Ort der Verbannten sah und keine kolonisierte Welt mit ureigenem Recht.
Jetzt fiel Vonnie auch ein, daß sie seit ihrer Ankunft in der Ortschaft keine Kinder gesehen hatte. Wo stecken die bloß? fragte sie sich. Nach eineinhalb Jahrhunderten mußten hier die Ururenkel der ersten Verbannten irgendwo auf diesem riesigen Schneeball leben. Hier im Ort jedenfalls nicht. Ich möchte den Kopf verwetten, daß dies hier samt und sonders verbannte Verräter sind. Aber wo leben die Eingeborenen?
Sie schob die Frage beiseite, um das Mädchen genauer anzusehen. Ihr Gesicht war übersät mit Schwellungen und Abschürfungen. Sie stützte die linke Hand sorgsam mit der rechten ab. Vonnie faßte unter den Pelz und tastete den Arm ab. Ihr Verdacht wurde bestätigt. Die Schulter war ausgekugelt. Das bedeutete, daß das Mädchen ärztlich versorgt werden mußte.
»Na, wie fühlst du dich?« fragte Vonnie. »Kannst du ein Stück laufen?«
»Meine Schulter schmerzt«, sagte das Mädchen in mitleiderregendem Ton. Sie versuchte aufzustehen, war aber noch zu benommen. Die Flucht hatte ihre Kräfte aufgezehrt. »Komm, bemüh dich nicht«, sagte Vonnie, als das Mädchen wieder versuchte sich hochzukämpfen. »Ich werde dich tragen. Du siehst nicht so aus, als ob du sehr schwer wärst.«
Sie bückte sich und hob das Mädchen hoch. Die Kleine wog vierzig Kilo. Gemeinsam wogen sie auf Gastonia nur die Hälfte dessen, was Vonnie allein auf DesPlaines wog. Yvonne trug ihre Last mühelos.
Im Ort selbst gab es keine Ärzte. Vonnie hatte erfahren, daß es eine minimale medizinische Versorgung in der Garnison gäbe. Man mußte dazu einen speziellen Eingang hinten benutzen. Das bedeutete einen Marsch von fünf Kilometern. Bei ihrer Ankunft hatten Jules und Yvonne nicht gewagt, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen, weil das rauhe Klima ungewohnt für sie war. Jetzt machte es ihr nichts mehr aus, auch wenn sie eine Last tragen mußte. Sie war lieber auf eigenen Beinen unterwegs, als sich dem Schlitten des alten Halsabschneiders Zolotin anzuvertrauen. Außerdem ging es so schneller.
»Wie heißt du?« fragte sie das Mädchen. Sie ging nun die Straße entlang, die zu den Hügeln führte, denen die Garnison vorgelagert war.
»Katanya«, sagte das Mädchen mit matter und wie aus großer Ferne kommender Stimme.
»Du stammst nicht aus dem Dorf?«
Das Mädchen blickte sie aus verängstigten Rehaugen an. Sie drehte und wand sich in Vonnies Armen, als wollte sie sich losmachen und davonlaufen, aber Vonnie hielt sie fest. »Beruhige dich, ich bringe dich zu einem Arzt. Ich bin deine Freundin, oder zumindest möchte ich es sein, wenn es dir recht ist - ich heiße Florence Brecht.«
Ganz langsam gelang es Vonnie während des langen Weges, das Mädchen zum Sprechen zu bringen und ihr die wahre Situation auf Gastonia zu schildern. Das Bild, das sie entwarf, war nicht nur faszinierend, es war gleichzeitig furchteinflößend und lieferte Vonnie viel Stoff zum Nachdenken.
Auf Gastonia existierten nebeneinander zwei Kulturen, die nur sehr wenig gemeinsam hatten. Da gab es einmal die Menschen in der Niederlassung, die kriminellen Elemente, die Verbannten, die aus der ganzen Galaxis hier auf Gastonia landeten. Auch wenn es sich bei diesen um hartgesottene Typen handelte, waren sie, auf sich allein gestellt, dem Leben in der Wildnis nicht gewachsen. Sie bildeten Banden und ließen sich in dem Ort nieder, wo sie unter ihresgleichen waren. Die Garnison lieferte einen gewissen Grundstock an Vorräten und medizinischer Versorgung, so daß sie nicht elend zugrunde gehen mußten.
Die ersten einheimischen Gastonianer waren vor über einem Jahrhundert geboren worden. Sie hatten niemals Wärme und Behaglichkeit kennengelernt oder ein Leben, das auf mechanisierter Arbeit beruhte. Für sie waren die kahlen, öden
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