Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
angeklagt wurden. Aber er kann nicht die Absicht gehabt haben, solche Dinge zu veröffentlichen …«
»Warum nicht? Falls es wirklich stimmt, dann sollte die Wahrheit doch wohl ans Licht kommen.«
Krumholtz beugte sich vor, bis ihre Köpfe sich fast berührten, und Gavin roch seinen Pfefferminzatem. »Zum einen würde unsere Regierung das nie zulassen. Niemand will am Status quo der Beziehungen mit Deutschland rütteln.« Zum ersten Mal schlich sich ein bitterer Unterton in seine Stimme ein. »Und es soll auch niemand die Erfolgsbilanz des Innenministeriums bei der Rettung von Juden infrage stellen dürfen. Die aktuelle Situation in Palästina ist schon heikel genug.«
Gavin dachte über Krumholtz’ Worte nach, und die Schlussfolgerungen gefielen ihm ganz und gar nicht. »Können Sie sich erinnern, ob Mr. Rosenthal letzten Samstag irgendetwas Ungewöhnliches gesagt oder getan hat?«
Krumholtz schüttelte bereits den Kopf, doch dann hielt er inne und legte den Finger an die Nasenspitze. »Jetzt, wo Sie es sagen – da war eine Sache. Er hatte eine Zeitung dabei, wie immer. Aber als der Lesesaal
schloss und wir beide unsere Sachen zusammenräumten, hörte ich plötzlich ein reißendes Geräusch, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass er ein Stück aus einer Seite herausgerissen hatte. Sobald er mich sah, faltete er das ausgerissene Stück zusammen und ließ es in seiner Aktentasche verschwinden, zusammen mit dem Rest der Zeitung.«
»Und haben Sie ihn gefragt, was es war?«
»Natürlich nicht.« Krumholtz lächelte. »Sie haben Mr. Rosenthal nicht gekannt. Man stellte ihm keine Fragen. Und außerdem hatte sein Gebaren etwas Verstohlenes. Ich wünschte ihm eine gute Nacht und ging nach Hause.«
»Und Sie haben nicht gesehen, welche Zeitung er an diesem Tag dabeihatte?«
»Nein. Tut mir leid.« Krumholtz blickte sich zu seinem Schreibtisch um, als sei seine Aufmerksamkeit schon zu lange von seiner Arbeit abgezogen worden. »Und es war auch kein System zu erkennen in dem, was er kaufte – David las alles, die Qualitätsblätter wie die Klatschpresse.«
»Ich danke Ihnen.« Gavin stand auf. »Falls Ihnen noch irgendetwas einfallen sollte …« Er gab Krumholtz eine Karte mit der Telefonnummer des Reviers, die dieser mit einer Achtlosigkeit zwischen seine Papiere steckte, die kaum hoffen ließ, dass er sich noch einmal melden würde.
Doch als Gavin sich zum Gehen wandte, hielt Krumholtz ihn zurück. Seine Miene war besorgt. »Hören Sie«, flüsterte er so leise, dass Gavin ihn kaum verstehen konnte, »diese Leute, von denen Sie sprachen – an Ihrer Stelle würde ich die Finger davon lassen. Man munkelt, dass die Regierung absichtlich wegschaut. Sie könnten echte Schwierigkeiten bekommen.«
Die Adresse, die Melody ihnen gegeben hatte, war am Cheyne Walk, was Kincaid einen leisen Pfiff entlockte. »Immerhin ist es günstig gelegen«, bemerkte er, »auch wenn ich schätze, dass Kristin sich in dieser Gegend ein bisschen fehl am Platz gefühlt haben dürfte.«
»Luftlinie ist es allerdings nicht weit«, pflichtete Gemma nachdenklich bei. »Ich frage mich, wie sie Dominic Scott kennengelernt hat.« Als sie in den Cheyne Walk einbogen, fiel Gemmas Blick auf die Hausboote, die jenseits von Cremorne Gardens vor Anker lagen. Die Boote erinnerten sie an die Garagenwohnung hinter dem Haus ihrer Freundin Hazel Cavendish, in der sie früher gewohnt hatte – sie war genauso winzig gewesen wie eine dieser schwimmenden Behausungen.Wie schnell verblassen die Erinnerungen an manche Dinge in unserem Leben, die uns einmal so wichtig zu sein schienen, dachte sie traurig; wie schnell werden sie verdrängt durch neue Erfahrungen, wie fallendes Herbstlaub. »Es ist einfach nicht genug Platz für alles«, sagte sie laut. Kincaid sah sie fragend von der Seite an, konzentrierte sich aber gleich wieder auf die Suche nach der Adresse.
Sie waren schon fast bis zum Chelsea Embankment gefahren, als er »Da ist es!« rief und abbremste, um auf der doppelten gelben Linie am Straßenrand zu parken. Nachdem er rasch ein Schild mit der Aufschrift POLIZEI hinter die Windschutzscheibe gesteckt hatte, stiegen sie aus und nahmen Dominic Scotts Haus in Augenschein. Mit dem roten Backstein und dem Satteldach hatte es ein beinahe holländisches Flair – vier Stockwerke plus Souterrain, dazu ein eigener kleiner Vorgarten, der von einem filigranen schmiedeeisernen Zaun eingefasst war.
»Ich nehme an, er wohnt noch bei seiner Mutter«,
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