Wen die Götter lieben: Historischer Roman (German Edition)
ging mit uns durch den ungepflegten Gartenhof zu Aquinus’ Bibliothek.
Die Tür war angelehnt, die Angeln verrostet, sodass sie sich kaum bewegen ließ. Die alten Borde rochen nach Schimmel. Unter dem zerbrochenen Fenster, wo einst das Schreibpult stand, hatte sich eine Pfütze gebildet.
»Dieses Zimmer wollte ich so lassen, wie es war«, sagte sie, als Marcellus die Lampe hochhielt. »Früher habe ich es verabscheut, weil es mir deinen Großvater gestohlen hat. Aber nun ist er tot, und ich habe nur noch das, was er geschaffen hat. Hier kann ich mich seiner erinnern.«
Marcellus stellte die Lampe ab und schlenderte durchs Halbdunkel. In der Ecke neben einem Bücherbord hob er ein Buch auf. Die Plünderer hatten es zerrissen und achtlos zu Boden geworfen. Es zerfiel ihm in den Händen. Einen Moment lang hielt er inne, dann wandte er sich seiner Mutter zu. »Ich kann dich so nicht zurücklassen.«
»Doch, das kannst du«, widersprach sie. »Ich habe mich zu lange vor der Welt versteckt, und schau, was es mir eingebrachthat. Nein, Marcellus, geh zurück nach Gallien und zu Julian und tu etwas Rechtes. Das hätte dein Großvater auch getan. Das Haus kann ich allein bewältigen.«
Sie ging an den leeren Borden entlang und blieb am Fenster stehen. Dann drehte sie sich um.
In demselben entschlossenen Tonfall sagte sie: »Dies wird immer dein Zuhause sein … ein Zuhause für euch beide.«
Das Licht flackerte und beschien ihr Gesicht, und ich bemerkte erschrocken, dass sie mir in die Augen schaute. Kurz hielt sie meinen Blick fest. Als sie sah, dass ich begriffen hatte, nickte sie und wandte sich ab.
Ich schluckte. Weitere Überraschungen hatte ich nicht von ihr erwartet. Doch jetzt war mir, als wollte mein Herz zerspringen, und plötzlich hatte ich Tränen in den Augen. Das war ihr Friedensangebot; ich wusste, welche Überwindung es sie gekostet hatte. Endlich, nach vielen Jahren und schmerzhaften Veränderungen, war ich akzeptiert.
Es blieb noch eine weitere Aufgabe.
Bevor wir uns verabschiedeten, hatte Marcellus’ Mutter gesagt, das Haus in London sei vermietet worden, da sie es selbst nicht benötigte. Aber die Miete sei lange nicht gezahlt worden, und der Agent antworte nicht auf ihre Forderungen.
»Ich werde mich darum kümmern«, versprach Marcellus.
Wieder in London nahmen wir die vertraute Straße westlich des Forums, die ins Viertel am Walbrook führt und die ich als Jüngling so oft entlangspaziert war, um Marcellus oder seinen Großvater zu besuchen. Nach einer Weile gelangten wir zu dem vornehmen alten Haus mit seiner schweren Eichentür und den rosa getünchten Mauern.
Marcellus klopfte an und wartete. Eine Zeit lang rührte sich nichts; dann erklangen Schritte. Der Riegel wurde beiseitegeschoben, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.
»Ja?«, fragte ein misstrauischer, schwarzhaariger Diener.
»Ich möchte mit deinem Herrn sprechen«, sagte Marcellus.
»Er ist noch nicht aufgestanden. Komm später wieder.«
Er wollte die Tür zuschlagen, aber Marcellus hatte bereits den Fuß dazwischengeschoben.
Das wutverzerrte Gesicht des Dieners erschien im Türspalt.
»Dann geh ihn wecken«, sagte Marcellus bedächtig und drückte mit der flachen Hand die Tür auf. »Wir werden solange drinnen warten.«
Noch ehe wir in den Innenhof mit seinen Kräutertöpfen und geriefelten Säulen gelangten, hörten wir aus dem oberen Stock einen Mann rufen: »Lollius! Lollius! Wer war da an der Tür? Wo bist du, verflucht noch eins?«
Der Diener, der entschieden hatte, wo die größere Gefahr lag, eilte davon. Wir standen wartend da und wurden Zeuge eines Austauschs hastig geflüsterter Worte, denen ungeduldiges Brummen folgte. Schließlich hörten wir nackte Füße auf der Treppe.
Ein hagerer, zermürbt aussehender Mann kam zum Vorschein, der seinen Umhang vor dem Körper zuhielt. Er war verschlafen, seine Haare fettig und zerzaust. Er begann eine lautstarke, wütende Tirade. Doch als er mich sah, stockte er.
Auch ich starrte ihn an, denn ich kannte ihn. Es war Faustus, der Diakon des Bischofs.
Sein hageres Gesicht erbleichte. Er straffte die Schultern, doch in seiner Bestürzung vergaß er, seinen Umhang zuzuhalten. Der öffnete sich und enthüllte einen weißen, ausgezehrten Körper. Hastig raffte Faustus die Säume zusammen, doch der würdevolle Auftritt war verdorben.
Ganz offensichtlich wusste er, wer wir waren. »Das Haus gehört jetzt mir!«, rief er. »Es ist Eigentum der Kirche.«
Marcellus
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