Wendekreis des Krebses
können sie sich nicht entsinnen, und das ärgert sie, hält sie unruhig und hellwach, und sie lauschen nun mit doppelter Aufmerksamkeit, weil sie hellwach sind und, ganz gleich wie wundervoll die Musik ist, sie werden dieses Auslagefenster und diesen Schal, der dort hing, oder den Hut nicht aus dem Bewußtsein bannen können.
Und diese glühende Aufmerksamkeit teilt sich mit; sogar das Orchester scheint zu ungewöhnlicher Lebhaftigkeit angespornt. Die zweite Nummer explodiert wie ein Korken – so rasch, daß manche Zuhörer, als die Musik abbricht und die Lichter angehen, steif wie gesteckte Mohrrüben mit krampfhaft arbeitenden Kinnladen auf ihren Plätzen sitzen, und wenn man ihnen plötzlich ins Ohr geschrien hätte: Brahms, Beethoven, Mendelejew, Herzegowina , sie ohne Nachdenken geantwortet hätten: 4.967.289.
Als wir im Programm zu Debussy kommen, ist die Atmosphäre vollkommen vergiftet. Ich ertappe mich bei der Frage, wie es wohl während des Beischlafs ist, eine Frau zu sein – ob das Vergnügen größer ist, usw. Versuche mir vorzustellen, wie etwas meine Leisten durchdringt, empfinde aber nur ein undeutliches Schmerzgefühl. Ich versuche, mich zu sammeln, aber die Musik ist zu schlüpfrig. Ich kann nur an eine sich langsam drehende Vase denken und wie die Figuren dabei abfallen, in den Raum. Am Schluß dreht sich nur das Licht, und wie dreht sich Licht, frage ich mich. Der Mann neben mir schläft fest. Er sieht aus wie ein Makler mit seinem dicken Bauch und seinem gewichsten Schnurrbart. Mir gefällt er so. Mir gefällt vor allem sein dicker Bauch und alles, was nötig war, um ihn anzusetzen. Warum sollte er nicht tief schlafen? Wenn er zuhören will, kann er den Preis für eine Karte immer aufbringen. Ich merke, je besser die Menschen angezogen sind, desto fester schlafen sie. Sie haben ein unbeschwertes Gewissen, die Reichen. Wenn ein armer Mensch einschlummert, und sei es auch nur für ein paar Sekunden, ärgert er sich. Er bildet sich ein, ein Verbrechen gegen den Komponisten begangen zu haben.
Bei dem spanischen Stück war das Haus elektrisiert. Jeder saß auf dem Rand seines Sitzes – die Trommeln weckten einen auf. Als die Trommeln anfingen, dachte ich, es sollte nie aufhören. Ich erwartete, Leute aus den Logen fallen oder ihre Hüte wegschleudern zu sehen. Es war etwas Heroisches daran, und Ravel hätte uns vollkommen verrückt machen können, wenn er gewollt hätte. Aber nicht so Ravel. Plötzlich klang alles ab. Es war, als fiele ihm mitten in seinen Phantasien ein, daß er einen Cutaway anhatte. Er gebot sich Einhalt. Ein großer Fehler, meiner bescheidenen Meinung nach. Die Kunst besteht darin, bis zum letzten zu gehen. Wenn man mit den Trommeln anfängt, muß man mit Dynamit oder TNT enden. Ravel opferte etwas der Form, für ein Gemüse, das die Leute verdauen müssen, ehe sie zu Bett gehen.
Meine Gedanken schweifen ab. Die Musik entgleitet mir, jetzt, wo die Trommeln aufgehört haben. Überall haben die Menschen zur Ordnung zurückgefunden. Unter dem Ausgangslicht sitzt ein in Verzweiflung versunkener Werther; er lehnt sich auf beide Ellbogen, seine Augen sind glasig. Unweit der Tür, in ein großes Cape gehüllt, steht ein Spanier mit einem Sombrero in der Hand. Er sieht aus, als stehe er Rodin für den Balzac Modell. Vom Hals aufwärts erinnert er an Buffalo Bill. In der Galerie mir gegenüber sitzt in der ersten Reihe eine Frau mit weitgespreizten Beinen. Sie sieht aus, als habe sie die Maulsperre mit ihrem zurückgeworfenen und verrenkten Hals. Die Frau mit dem roten Hut, die sich über die Brüstung beugt – wunderbar, wenn sie einen Blutsturz bekäme, plötzlich einen Eimervoll auf die gestreiften Hemden unten ergösse. Man stelle sich vor, wie diese elenden Nullen mit Blut auf ihren Chemisetten vom Konzert heimgehen!
Schlaf ist die Grundstimmung. Niemand hört mehr zu. Unmöglich, zu denken und zu lauschen. Unmöglich, auch nur zu träumen, nachdem die Musik selbst nur noch ein Traum ist. Eine Frau mit weißen Handschuhen hält einen Schwan in ihrem Schoß. Die Legende sagt, Leda habe nach ihrer Befruchtung Zwillinge zur Welt gebracht. Jedermann bringt etwas zur Welt – jeder, außer der Lesbierin im oberen dritten Rang. Ihr Kopf ist hintenüber gekippt, ihr Schlund weit geöffnet. Sie ist ganz aufgewühlt und kribbelig von dem Funkenregen, der von der Radium-Symphonie aufstiebt. Jupiter geht durch die Ohren ein. Kleine Redewendungen aus Kalifornien. Wale mit großen
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